Es sind wohl ganz einfache Dinge, durch die man einen Krieg verpasst. In meinem Fall: Ohrstöpsel. Als in der Nacht auf den 13. Juni Sirenen die Stille über Tel Aviv unterbrechen, liege ich in meinem Bett, und höre nichts; weder das scharfe Heulen vor dem Fenster noch den Hotelalarm. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, welches Privileg ein friedlicher Schlaf ist. Das Vertrauen in die Sicherheit der eigenen Stadt, der Wohnung, des Schlafzimmers. Das sollte sich in den kommenden Nächten ändern.
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Überleben im Bunker
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Überleben im Bunker
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Überleben im Bunker – mit Pride
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Überleben im Bunker
46 neue Nachrichten auf WhatsApp. Mein erster Kriegsmorgen beginnt mit einem Bombardement besorgter Nachfragen aus der Familie und dem Freundeskreis und über hundert Drohnen, die der Iran noch in der Nacht auf den Weg Richtung Israel startet. Flug- und Vorwarnzeit: etwa vier Stunden. Keine davon erreicht israelisches Territorium.
Also formuliere ich ein paar Sätze, die beruhigender klingen sollen, als ich mich fühle, und schicke sie als Antwort auf meine 46 Nachrichten nach Deutschland. In den Status stelle ich ein Bild der israelischen sowie der Regenbogenflagge und einen einsamen Rettungsschwimmer am Strand vor dem Hotel.
13.06. WhatsApp

Ja. Es gibt Länder, die auch ich boykottiere. Russland zum Beispiel oder die Türkei. Es fühlt sich sich falsch an, Regionen zu unterstützen, die von Aggressoren, Autokraten oder international gesuchten Kriegsverbrechern regiert werden. Aber Israel ist anders und eine Ausnahme im Mittleren Osten. Trotz aller Konflikte bleibt es eine stabile Demokratie in einer autoritären Region. Pressefreiheit, unabhängige Gerichte, offene Debatten, Frauen- und Minderheitenrechte – all das existiert in Israel; oft im Streit, aber sichtbar, hörbar, lebendig. Dabei hege ich keine einseitigen Sympathien für Israel. Schon gar nicht für die aktuelle Regierung. Ich halte das Leid, das sie über die Menschen in Gaza bringt, für unerträglich. Genauso wie ich das Leid, das viele Israelis am 7. Oktober 2023 und danach erfahren mussten, für unbeschreiblich halte.
Am Tag vor dem Krieg hatte ich mich im Zentrum von Tel Aviv mit einer jungen Frau unterhalten, die am 7. Oktober ihren Mann, ihren Schwager und ihr halbes Dorf verlor. Die Kinder mussten zuschauen, wie ihr Vater von den Kämpfern der Hamas mit einer Axt erschlagen wurde. Und trotzdem glaubt diese Frau weiterhin an die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz.
Ob man im Angesicht des Leides auf beiden Seiten der Grenze eine Pride Parade planen dürfe, frage ich sie. Ihre Antwort ist eindeutig: Gerade in Kriegszeiten müsse man die Rechte von Minderheiten schützen, denn damit bewahre man auch die Rechte aller einzelnen Menschen in Israel.
Was zum Teufel machst du da?
Unter anderem diese Frage pingt insgesamt 56mal in meinem WhatsApp-Account. Ich entscheide mich für eine Sammelantwort.
14.06. 03:43 WhatsApp-Status

14.06. 03:43 WhatsApp-Status
Ich will mal Danke sagen: An alle, die sich Sorgen machen oder mir schreiben. Ich hätte nicht gedacht, wie gut das tut, wenn die Nächte kurz, die Augenringe tief und Ruhe oder Schlaf zur Ausnahme werden. Viele eurer Fragen sind ähnlich, quasi FAQ, frequently asked questions. Deshalb beantworte einige hier im Status. Ich fange an mit: "Wieso bist du da überhaupt?" Dieses Video beantwortet die Frage ganz vortrefflich.
"Stell dir vor: Eine Pride Parade im Mittleren Osten" – https://www.youtube.com/watch?v=29eBIXgQ-18
Den kurzen Clip poste ich als nächstes im Status. Er steht auf dem offiziellen YouTube-Kanal der Stadt Tel Aviv. Gezeigt werden ein paar kurze, von künstlicher Intelligenz erzeugte Video-Sequenzen aus Damaskus, Bagdad und Teheran, in denen zehntausende Menschen mit Regenbogenfahnen tanzend und ausgelassen feiernd über die zentralen Hauptachsen ihrer Städte ziehen. Der Bildschirm wird schwarz und ein Schriftzug erscheint:
„Bis das in der Realität passiert … zeig dich hier! Tel Aviv Pride 2025“.
Die Parade hätte wenige Stunden nach den ersten Angriffen Israels auf die militärische Infrastruktur des Iran stattfinden sollen – und wurde abgesagt. Schade. Ich war vor acht Jahren bereits einmal zur Pride Week nach Tel Aviv gereist und war begeistert. Ich kenne keine andere Stadt, die ihre Minderheiten und Randgruppen ähnlich fördert, ihnen mit so viel Offenheit und Toleranz begegnet und sie so wild, frei und ausgelassen feiern lässt.
Angst
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Raketeneinschlag in Tel Aviv
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Raketeneinschlag
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Raketeneinschlag
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Raketeneinschlag
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Raketeneinschlag
Die Nacht auf den 14. Juni ist die Hölle. Es gibt eine App, die ihre Nutzer warnt, sobald im Iran Raketen starten. Je nach Bauart und Startpunkt brauchen sie vier bis zwölf Minuten, um ein Ziel in Israel zu erreichen. Man kann in der App Orte im Land anwählen, für die man eine Warnung erhalten möchte. Ich entscheide mich für „aktuelle Position“. Ein Fehler, denn die Geodaten sind gestört. Das soll es dem Iran erschweren, eine zweite Rakete auf den Ort eines Einschlages abzuschießen, sobald die Rettungskräfte vor Ort sind. In meinem Fall bedeutet es, dass die HomeFront-App mich kurz vor Zypern – und damit weitab möglicher Einschläge – wähnt.
Das Ergebnis: Geweckt werde ich nicht mit einigen Minuten Vorwarnzeit von der App, sondern vom Aufheulen der Sirenen – mit nur knapp neunzig Sekunden Vorlauf. Aus tiefstem Schlaf. Aus einem Zustand, den ich bisher mit totaler Geborgenheit verknüpft hatte. Als ich im Bad stehe, erzittert das Gebäude, während vor meinem Balkon, schräg über dem Hotel, eine iranische Rakete in der Luft abgefangen wird und explodiert. Die sogenannte Nutzlast, die Menge des Sprengstoffs, wird bei diesen Raketen auf eine halbe Tonne geschätzt.
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Die Home Front App mit Warnmeldungen
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In einer Mischung aus Übermüdung, totaler Verwirrung und journalistischer Selbstüberschätzung renne ich auf den Balkon und betrachte für Sekundenbruchteile das farbenprächtige Schauspiel am Himmel. Dann explodiert direkt über dem Hotel die nächste Rakete und ich stürze mit Zahnbürste im Mund und offener Schlafanzughose aus dem Zimmer Richtung Schutzraum. Für eine Woche wird es das letzte Mal gewesen sein, dass ich nicht vollständig angezogen ins Bett gehe.
Wie oft wir in dieser Nacht in Bunker gerufen wurden? Ich kann es nicht rekonstruieren; ich tippe auf sieben Alarme. Die Schlafzeit dazwischen? Insgesamt weniger als eine Stunde. Das Gefühl beim Ertönen der Sirenen mitten in einer Tiefschlafphase: Todesangst. Eindeutig. So viel Furcht, wie in dieser Nacht, habe ich noch nie erlebt.
14.06. 04:27 WhatsApp-Status

14.06. 04:27 WhatsApp-Status
FAQ 2: „Habt ihr einen Bunker? Ist es da sicher?“
Ja. Seit 1992, ein Jahr nach dem Golfkrieg, müssen in Israel alle größeren Neubauten über einen Gemeinschaftsbunker verfügen. In modernen Gebäuden ist seitdem auch ein privater Schutzraum in den Wohnungen Pflicht. In unserem Hotel gibt es auf jeder Etage einen dieser Schutzräume. Auch das Treppenhaus und der Fahrstuhlschacht sind entsprechend gepanzert und fungieren als Shelter. Tief unter der Erde gibt es außerdem auf zwei Etagen einen großen Bunker.
Die deutsche Online-Plattform für Statistik, Statista, beziffert die Zahl der Raketen, die seit Januar 2021 auf Israel abgefeuert wurden, auf über 21.500. Schwer Verletzte oder gar Tote gab es dabei vergleichsweise wenige. Israelis sind routiniert im Umgang mit der Gefahr.
Die kommenden Tage sind etwas ruhiger als die Nächte. Vor dem Start sind Raketen besonders vulnerabel und bei Tageslicht ein leicht zu erkennendes Ziel für israelische Kampfjets. Außerdem zermürben Raketen die Zivilbevölkerung bei Nacht weit mehr. Entsprechend paradiesisch erscheint der Strand von Tel Aviv, denn im glasklaren Wasser tummeln sich heute weit weniger Menschen als gewöhnlich. Und entsprechend viel Zeit verbringe ich im Wasser. Immer im Blick: die Sonnenanbeter am Strand. Wenn alle gleichzeitig nach ihrem Handy greifen, zeigt die App eine Raketenwarnung. Deshalb bin ich am Strand genauso für eine schnelle Flucht in den nächstgelegenen Schutzraum vorbereitet wie im Hotelzimmer.
14.06. 15:51 WhatsApp-Status

14.06. 15:51 WhatsApp-Status
Nächste FAQ: „Was machst du, wenn du in der Stadt bist, wenn ein Alarm ertönt?“
Ich beobachte, wohin die Einheimischen gehen und folge ihnen. Das Motto scheint zu sein: Leave no one behind – niemand wird zurückgelassen. Wenn Israelis merken, dass ein Tourist orientierungslos oder verängstigt ist, sprechen sie ihn an und nehmen ihn mit. Der nächste Schutzraum ist in Stadtzentren meist nur wenige Schritte entfernt.
Die Nächte auf den 15. und 16. Juni verlaufen ähnlich wie die erste Nacht. Und trotzdem ist alles anders. Ich habe Routinen entwickelt, die den Stress vermindern: Meine Schuhe stehen so vor dem Bett, dass ich nur reinschlüpfen aber nicht zubinden muss. Vor dem Ausgang liegt mein Handtuch in Regenbogenfarben und dem Aufdruck „Tel Aviv“; man möchte im Shelter schließlich nicht nur stehen. Und da ich komplett angezogen schlafe, will ich mich nicht mit der Hose ins Bett legen, mit der ich im Bunker auf auf dem Boden saß.
Auf dem Handtuch liegt eine Tasche mit Desinfektionsmittel, Wasser, Gummibärchen und Schokolade sowie der Schlüsselkarte fürs Zimmer. Unter den israelischen Hotel-Gästen gilt es als Anfängerfehler, die Schlüsselkarte nicht immer im Panik-Täschchen zu lagern. Die Rezeption ist daran gewöhnt, dass nach jedem Alarm eine Schlange vor dem Tresen steht und um neue Kärtchen bittet.
15.06. 02:17 WhatsApp-Status

15.06. 02:17 WhatsApp-Status
FAQ Nummer 3: "Wie überleben Hunde den Stress?"
Simpler Trick: Wenn die Hunde jung sind, bekommen sie in unregelmäßigen Abständen das Geräusch einer Sirene vorgespielt und danach ein Leckerli. Viele israelische Hunde freuen sich "tierisch", wenn die Sirenen heulen.
https://www.youtube.com/watch?v=9DUq9_UgdRo
Heute Nacht sind Trümmerteile einer knapp über dem Boden abgefangenen Rakete neben unserem Hotel in ein Wohngebiet gestürzt. Der Einschlag war auch vier Etagen unter der Erde deutlich zu spüren. Die Springer-Presse titelt: „Israel zielt aufs Militär, Iran auf Zivilisten“. Zumindest den zweiten Teil kann ich bestätigen. Ein halber Block mit von der UNESCO geschützten Häusern aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts ist verschwunden.

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Bunkerboy
Wenige Minuten nach den Einschlägen stehe ich am Rand der Trümmerwüste und freue mich, dass ich einer Sanitäterin bei der Erstversorgung einer Frau mit Kreislaufkollaps zur Hand gehen kann. Als sie aus dem Bunker kam, war ihr Haus nicht mehr da. Gestorben ist hier niemand; es gab „nur“ eine Handvoll Menschen mit leichten Verletzungen.
16.06. WhatsApp (Marie)

Auf der Flucht
Im Morgen-Grauen des des 19. Juni beginnt unsere Evakuierung – oder besser: Flucht. Über die Grenze östlich von Jericho nach Amman, der Hauptstadt Jordaniens. Für die knapp zweihundert Kilometer brauchen wir elf Stunden; die jordanischen Grenzer sind mit der Situation überfordert.
Die erste Nacht in einem friedlichen Land fühlt sich falsch an. Ich suche immer noch als erstes den Himmel ab, wenn ich auf die Straße trete. Außerdem nehme das Handy automatisch mit unter die Dusche, aus Angst eine Warnmeldung zu verpassen.
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Auf der Flucht nach Jordanien
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Auf der Flucht – Besichtigung Petra
Und ich habe das Gefühl, dass ich länger in Israel hätte bleiben müssen. Als wäre da noch etwas offen; eine Rechnung oder ein Versprechen. Ich lasse Menschen zurück, die nicht in ein Land ohne durchfurchten Himmel flüchten: Den älteren Herrn, der immer darauf geachtet hat, dass ich den Bunker nicht zu früh verlasse. Den jungen Soldaten mit dem freundlichen Gesicht, der ab der dritten Nacht mit Maschinengewehr im Bunker saß, weil die Angst vor iranischen Selbstmordattentätern umging. Ich habe keine Ahnung, welche Traumata er in Israels Kriegen und Luftschutzbunkern gesammelt hat. Musste er auf dem Nova-Festival zusehen, wie radikale Hamas-Kämpfer seine Freunde und mehr als 380 Zivilisten metzelten? Oder war er im Gazastreifen und hatte Freude daran, Rache zu üben? Ich habe in unseren Gesprächen kein Wort des Hasses von ihm gehört – und mich mit ihm im Bunker sicherer gefühlt als in einer Berliner U-Bahn.
Ich habe in ganz Tel Aviv keinen Hass erlebt, keine zum Victory-V in die Höhe gestreckten Finger, wenn die Nachrichten vom Raketeneinschlag in einer iranischen Anreicherungsanlage für waffenfähiges Uran berichteten. Nicht von dem Mann der in den Trümmern von Tel Avivs ältestem Fotoarchiv saß und dankend meine Hilfe beim Aufräume ablehnte. Nicht von den jungen Frauen und Männern die nach Schule oder Studium drei Jahre ihres Lebens ihrem Land und dem Militär opfern. Und nicht von den Kindern über deren Köpfen bereits eine größere Zahl Raketen explodierte, als sie schreiben können.
„Hass ist laut", sagte die junge Sanitäterin in der Trümmerwüste. Seit dem 7. Oktober 2023 kann sie nicht mehr in ihr zerstörtes Haus an der Grenze zum Libanon. „Liebe hört man nicht.“
Wen sie damit meine frage ich sie: Netanjahu? Die Hamas? Radikale jüdische Siedler? Hisbollah oder Mullahs mit dem erklärten Ziel, alle Juden ins Meer zu bomben?
Ihre Antwort ist simpel: „Macht das einen Unterschied?"
„Ihr werdet die nächsten 25 Jahre nicht erleben; so Gott will, wird es das zionistische Regime in 25 Jahren nicht mehr geben. Bis dahin wird der kämpferische, heroische und dschihadistische Geist den Zionisten keinen Moment der Ruhe lassen."
Ayatollah Ali Khamenei, 2015
„Hass ist laut.
Die Liebe hört man kaum."
Sanitäterin in Tel Aviv
*Text & Fotos: Carsten Heider