In keinem anderen EU-Land kann der Einfluss einer starken Zivilgesellschaft auf die jeweils regierenden Parteien besser beobachtet werden, als im östlichen Nachbarland Deutschlands. Je lauter und schriller Entscheidungen der ehemaligen, rechtspopulistischen PiS-Partei wurden, desto lauter und größer wurde auch der Protest auf Polens Straßen. Waren es die Verschärfung der Abtreibungsgesetze oder sogenannte LGBTIQ*-freie Zonen im Südosten Polens: Die Reaktion von Aktivist*innen war stets so groß, dass sie sowohl im Heimatland, als auch weit in die Europäische Union strahlten.
Hintergrund PiS-Regierungszeit
In acht Jahren Regentschaft hatte die PiS-Partei einen harten Feldzug gegen die LGBTIQ*-Community und die sogenannte „LGBT-Ideologie “ geführt. Seit 2019 haben sich fast 100 Kommunalverwaltungen in Polen als „frei von LGBT-Ideologie“ erklärt, sogenannte „LGBT-freie“ Zonen erstreckten sich zeitweise über fast ein Drittel des Landes. Infolgedessen wurde Polen in den letzten vier Jahren in Folge zum EU-Land mit der schlechtesten Lebensqualität für Queers gekürt.
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Machtwechsel und Wahlversprechen
Die Proteste gegen die PiS zeigten im letzten Jahr finale Wirkung, als bei der Parlamentswahl relativ überraschend das Oppositionsbündnis um den liberalen Europabefürworter Donald Tusk die Mehrheit erlangen konnte.
Foto: Janek Skarzynski / AFP
Liebe besiegt den Hass: Donald Tusk am Wahlabend im Oktober 2023
Donald Tusk hatte vor der Wahl versprochen, im Falle eines Wahlsieges eine Reihe von Maßnahmen einzuführen, um das Leben der LGBTIQ*-Community in Polen zu verbessern. „Das Wichtigste ist, die Sprache des Respekts wieder aufzubauen“, sagte Tusk Ende September während eines Wahlkampfauftritts in der Stadt Piła im Nordwesten Polens.
„Liebe verdient unseren Respekt.“
Ein Entwurf, der sich auch im Wahlprogramm der Bürgerkoalition, den 100 Konkretow, findet, befasst sich mit der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes. Dieses Gesetz wollte Tusk in den ersten Monaten seiner Regierungszeit zur Priorität machen. „Es scheint, dass es gelingen wird, eine Mehrheit im Parlament aufzubauen, sodass [eingetragene Lebenspartnerschaften, Anm. d. Red.] sofort zur Realität werden“, so Tusk laut OKO Press vor der Wahl.
100 mal erwacht, 100 mal ist nichts passiert
Um die Regierung zu zwingen, ihr Versprechen einzuhalten, begann das wohl bekannteste Aktivistenpaar in Polen – Jakub und Dawid – öffentlich einen 100-Tage-Countdown zu zählen. Im Rahmen des Countdowns macht jeden Tag ein anderes Paar auf einer speziellen Website ein öffentliches Coming-Out und erklärt, warum sie zivile Partnerschaften in Polen wiollen. Der Countdown sollte innerhalb von 100 Tagen nach der Einführung des Gesetzes enden. Als die Regierung jedoch ihr Wort nicht hielt, wurde der Aufruhr in der LGBTIQ*-Gemeinschaft so groß, dass die Menschen in großem Maßstab freiwillig an der Aktion teilnahmen.
„Laut dem ILGA Europe Ranking ist Polen das homophobste Land in der EU. Wir hatten Angst, dass wir nicht genug Paare für 100 Tage finden würden. Die Resonanz aus der Gemeinschaft war jedoch so groß, dass wir derzeit beim 160. Paar sind und Freiwillige für die nächsten zwei Jahre des Countdowns haben. Es hat noch nie eine so groß angelegte Kampagne in Polen gegeben.“
Jakub und Dawid
Der Countdown sollte nach 100 Tagen enden, aber nachdem das Versprechen nicht innerhalb dieser Frist erfüllt wurde, wird die Kampagne fortgesetzt. Wie die Autoren ankündigen, wird sie so lange fortgesetzt, bis das Ziel erreicht ist. Gleichzeitig kann jede*r seine digitale Unterschrift für eine Petition an Ministerpräsident Tusk hinterlassen.