zum Update vom 4. Mai 2021 bitte nach unten scrollen
Originalbericht vom 13.4.2021
Wojciech Wilk, Bürgermeister der kleinen Stadt Kraśnik im Südosten Polens, klagt sein Leid. Zwei Jahre ist es her, dass die Gemeinderäte der Stadt eine Resolution verabschiedeten, in der Kraśnik als „frei von LGBT“ erklärt wurde. Damals sah Wilk diese Geste als symbolisch und rechtlich nicht relevant an. Sie war für ihn ein Zugeständnis an die Konservativen in der ländlichen, stark katholisch geprägten Region von Polen. Heute sieht er ein: Das zu glauben war ein Irrtum, die Resolution zu unterzeichnen ein Fehler.
Eine kleine Geste mit großen Konsequenzen: Gegenüber der New York Times erklärte Wilk, der Schritt habe sich zu einer kostspieligen Blamage für seine Stadt entwickelt. Unsummen an ausländischen Geldern seien gefährdet, Kraśnik in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Synonym für Homophobie geworden. Das Regierungsoberhaupt der 32.000 Einwohner starken Stadt betont: So ist Kraśnik nicht. Und bedauert:
„Wir sind zum Gespött Europas geworden, und es sind die Bürger, nicht die Lokalpolitiker, die am meisten gelitten haben.“
Queerfeindlichkeit kostete Millionen
Wilk kämpft dafür, die Resolution aufzuheben. Die Konsequenzen für die Einwohner seien nicht mehr tragbar. Letztes Jahr kündigte die nordfranzösische Gemeinde Nogent-sur-Oise ihre Städtepartnerschaft mit der polnischen Kleinstadt und Norwegen erklärte im September, es könne die Kraśnik ursprünglich versprochene Summe von knapp 8 Millionen Euro für die Finanzierung von Entwicklungsprojekten keiner Stadt zukommen lassen, die sich als „frei von LGBT“ erklärt.
Bürgermeister Wilk berichtet von den Sorgen, die ihm die Situation bereitet. Er habe, solange der queerfeindliche Beschluss Bestand habe, kaum eine Chance, ausländische Fördergelder für die Finanzierung von Elektrobussen oder Jugendprogrammen zu erhalten – die, wie er betont, besonders wichtig für die Zukunft seiner Stadt seien, da immer mehr junge Leute den Ort verließen.
Er erklärte gegenüber der New York Times:
„Meine Position ist klar: Ich möchte, dass dieser Beschluss aufgehoben wird, denn er ist schädlich für die Stadt und ihre Einwohner.“
Kein Weg zurück?
Doch leider entscheidet der Bürgermeister nicht allein. Wilk sieht sich in Kraśnik einer harten Front von Gegnern gegenüber: Der 21-köpfige Stadtrat stimmte bereits letztes Jahr gegen einen Antrag zur Aufhebung der Resolution und lehnte vor Kurzem eine Bitte des Bürgermeisters um eine erneute Abstimmung ab. Nur ein Mitglied des Stadtrates ist auf Wilks Seite: Paweł Kurek, der offen erklärte, die Resolution sei töricht und sollte aufgehoben werden. Er selbst habe sich bei der ursprünglichen Abstimmung enthalten und damit einen Fehler gemacht, so der Stadtrat. Mit dieser Einstellung steht er noch allein auf weiter Flur. Bleibt abzuwarten, ob es in Kraśnik zu einem Sinneswandel kommt …
Polens Weg in die Vergangenheit
In den letzten zwei Jahren erklärten sich fast 100 polnische Städte und Kommunen, besonders im Süden des Landes, zu „LGBT-freien Zonen“ (wir berichteten). Diese beunruhigende Rückwärtsentwicklung führte zu großer Kritik der Weltöffentlichkeit, darunter dem Europäischen Parlament, das Polen dazu aufforderte, die Diskriminierung zu beenden (wir berichteten). Nicht nur Norwegen, auch Island erklärte 2020, es werde künftig jeder Stadt, die gegen Europas Verpflichtung zur Förderung von Toleranz und Gleichheit verstößt, die Gelder streichen. Diesen Standpunkt bewies auch die EU im letzten Jahr (wir berichteten). Zudem verabschiedete das Europäische Parlament mit einer Mehrheit von 492 zu 141 Stimmen vor einem Monat eine Resolution, die die gesamte EU zur „LGBTIQ-Freiheitszone“ erklärte (wir berichteten).
Aber von Einsicht der rechtsgerichteten Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (kurz PiS, deutsch: Recht und Gerechtigkeit) ist angesichts des massiven Gegenwindes keine Spur – im Gegenteil. Die Situation für Queers in Polen wird nicht besser, sondern immer schlimmer: So verabschiedete das Parlament letzten Monat ein Verbot von Adoptionen für Homosexuelle (wir berichteten), außerdem versucht die Regierung vehement, Queeraktivist*innen mit einer Klagewelle einzuschüchtern. So wurden unter anderem die Verantwortlichen der Seite Atlas of Hate, auf der man die Verbreitung der Resolution in Polen verfolgen kann, angeklagt – die Regierung fordert erheblichen Schadensersatz von ihnen (wir berichteten).
Update vom 4. Mai 2021
Kraśnik keine „LGBT freie Zone“ mehr
Und Geld regiert doch die Welt: Nun, da Millionen von Euro an EU-Fördermitteln auf dem Spiel stehen, stimmten die Stadträte der polnischen Stadt Kraśnik in einer neuen Abstimmung mehrheitlich für eine Aufhebung der queerfeindlichen Resolution.
Die regionale Tageszeitung Dziennik Wschodni berichtet, dass von den 19 an der Abstimmung teilnehmenden Stadträten neun für die Aufhebung der Resolution stimmten und sechs dagegen. Vier enthielten sich. Vor der Abstimmung soll Bürgermeister Wojciech Wilk zu den Stadträten gesagt haben, dass die Annahme des Antrages ein großer Schritt auf dem Weg raus aus der Imagekrise sei. Die Stadt würde derzeit gegenüber der Öffentlichkeit nicht sympathisch dargestellt werden. Als anderen wichtigen Grund nannte Wilk das Geld.
„Wenn wir diese Resolution aufheben, haben wir eine bessere Chance, in Zukunft externe Gelder zu bekommen.“
Vor allem, so das Stadtoberhaupt, meine er damit natürlich den Zuschuss der norwegischen Finanzmittel – immerhin insgesamt 35 Millionen Zloty (7,7 Millionen Euro). Aber Wilk argumentierte nicht nur mit gestrichenen Geldern, sondern appellierte auch an die Stadträte, die verfassungsrechtlichen Grundsätze einzuhalten. Die Resolution habe zwar keine rechtlichen Auswirkungen, könne aber dennoch als Eingriff in die Rechte und Freiheiten von Minderheiten angesehen werden, so der Bürgermeister.
Folgen weitere Städte?
Druck von außen – kann das wirklich innen etwas bewirken? Wenngleich finanzielle Gründe an erster Stelle gestanden haben dürften und in polnischen Medien auch von „Erpressung“ der EU die Rede ist, so wurde die Nachricht von der polnischen Queercommunity doch positiv aufgenommen und als wichtiges Symbol für den Kampf gegen die queerfeindliche Politik gefeiert. Bartosz Staszewski, einer der inzwischen bekanntesten LGBTIQ*-Aktivist*innen in Polen, erklärte gegenüber der Tageszeitung:
„Das sind sehr gute Nachrichten. Ich gebe zu, dass ich das überhaupt nicht erwartet habe. Dies zeigt, dass Sturheit Sinn macht.“
Foto: facebook.com/profile.php?id=100008152054340
Bart Staszewski
Auch der Initiator des Fotoprojekts „LGBT-free Zones“, Bart Staszweski, sieht sich zahlreichen gerichtlichen Klagen ausgesetzt.
Und es könnten sogar noch weitere Städte folgen: Polnischen Medien zufolge soll der Bürgermeister der südpolnischen Stadt Wilamowice sehr deprimiert sein, weil die Stadträte diese Woche mit knapper Mehrheit für die Beibehaltung der Resolution stimmten. Damit dürften 7,3 Millionen Zloty (über 1,6 Millionen Euro) verloren sein, die eigentlich für den Bau eines Museums verwendet werden sollten. Wer weiß, vielleicht klingelt in Kraśniks Rathaus ja bald das Telefon.