Bei einer Wahlbeteiligung von 64,9 Prozent stimmte die russische Bevölkerung mit einer Mehrheit von 78 Prozent für die von Wladimir Putin befürwortete größte Neuordnung der Verfassung in der Geschichte des Landes.
Putin hatte schon im März während der öffentlichen Bekanntmachung des wegen COVID-19 verschobenen Referendums erklärt, dass es unter seiner Präsidentschaft keine Öffnung der Ehe geben wird (wir berichteten). Und er behielt natürlich recht: In Artikel 72 der reformierten Verfassung wird der „Schutz der Institution der Ehe“ als die „Vereinigung von Mann und Frau“ zu einer Staatsaufgabe der Russischen Föderation. Das kommt einem faktischen Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe gleich.
Gottes Gesetze vor internationalem Recht?
Die Verfassungsänderung sieht vor, dass sich Russland als Mitglied im Europarat keinen internationalen Urteilen mehr beugen muss. Das bedeutet, die neue Verfassungsversion kann quasi alle Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Fall bringen. Eigentlich unvorstellbar für queere Menschen in Russland, die sich in der Vergangenheit an den EGMR gewandt hatten, doch leider Realität.
Zu den weiteren verabschiedeten Änderungen gehört auch, dass der „Glaube an Gott“ in der Verfassung verankert wird. Die ideologisch eh schon einflussreiche russisch-orthodoxe Kirche darf sich damit über noch mehr Gewicht ihrer Worte freuen. Ein auf Twitter gepostetes Video demonstriert das neue Selbstverständnis: Zu sehen sind Mitglieder von Sorok Sorokov, einer konservativen christlich-orthodoxen Gruppe, die sich dabei filmten, wie sie auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude der US-Botschaft auf einer Regenbogenfahne herumtrampeln. Wie The Moscow Times berichtete, wurde die Regenbogenfahne, die anlässlich der Pride Week an der US-Botschaft in Moskau hing, zum Ziel homophober Proteste, nachdem ein Sprecher der orthodoxen Kirche die Flagge als respektlos gegenüber den Werten der Russen abkanzelte.
Zweifel an der Abstimmung
Die unabhängige Organisation Golos, die sich für Wählerrechte einsetzt, berichtete bis Dienstagmittag von knapp 700 Wahlrechtverstößen in Russland, insbesondere gegen die Wahlfreiheit. Kritisiert wurde auch die Dauer der Abstimmung, die eine Kontrolle der Wahllokale unmöglich gemacht habe. Außerdem waren bereits vor Ende der Abstimmung Zahlen aus einzelnen Regionen veröffentlicht worden.
Auf welch perfide Art und Weise Organisationen wie Golos diskreditiert werden, verdeutlicht folgender Tweet:
Verhaftungen queerer Demonstranten*innen
Am vergangenen Wochenende verhaftete die russische Polizei mehr als 30 Personen, die an einzelnen Protesten gegen die Inhaftierung der LGBTI-Aktivistin Julia Tsvetkova teilnahmen. Tsvetkova wird beschuldigt, pornografische Fotos veröffentlicht zu haben.