Das Oppositionsbündnis in der Türkei will bei einem Wahlsieg am 14. Mai mit der zwei Jahrzehnte dauernden Herrschaft von Präsident Recep Tayyip Erdogan brechen, die Kritiker seit Jahren als zunehmenden Autoritarismus brandmarken. Ein Überblick über die Änderungen, die sich die Allianz aus sechs Parteien mit ihrem sozialdemokratischen CHP-Spitzenkandidaten Kemal Kilicdaroglu vorgenommen hat.
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Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP
Abschaffung des Präsidialsystems
Kilicdaroglu will nach seinen eigenen Worten Erdogans „Ein-Mann-Regime“ beenden. Das 240 Seiten starke Programm des Oppositionsbündnisses sieht vor, das 2018 eingeführte Präsidialsystem abzuschaffen und wieder eine strikte Gewaltenteilung einzuführen. Die Opposition möchte zu einem parlamentarischen System zurückkehren, in dem die Abgeordneten den Regierungschef wählen. Die Amtszeit des Präsidenten soll auf einmalig sieben Jahre beschränkt werden. „Die Änderung des politischen Systems wird nicht einfach sein“, sagt Bertil Oder, Verfassungsrechtlerin an der Koç-Universität in Istanbul. Für eine solche Verfassungsänderung ist eine Dreifünftelmehrheit im Parlament nötig, die die Opposition bei der Wahl voraussichtlich nicht erreichen wird.
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Recep Tayyip Erdogan
Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz
Als eine seiner ersten Amtshandlungen will Kilicdaroglu als Präsident per Dekret einige der bekanntesten Oppositionellen aus dem Gefängnis freilassen. Dazu zählen der zu lebenslanger Haft verurteilte Kultur-Mäzen Osman Kavala und der frühere Chef der pro-kurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas. Nicht festgelegt hat sich die Allianz indes, wie sie es mit den Kurden halten will - hunderte kurdische Bürgermeister und lokale Abgeordnete wurden in den vergangenen Jahren abgesetzt und inhaftiert. Kilicdaroglu rief lediglich dazu auf, die Kurden nicht länger zu stigmatisieren und generell in die Nähe von Terrorismus zu rücken. Die Opposition verspricht zudem, die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen, nachdem Erdogan viele Richterposten insbesondere nach dem versuchten Putsch von 2016 mit Verbündeten besetzt hat. Auch der Straftatbestand der Präsidentenbeleidigung soll wieder abgeschafft werden, mit dem Kritiker mundtot gemacht wurden. Es soll wieder Meinungsfreiheit herrschen und die Medien, die derzeit größtenteils staatlich kontrolliert sind, sollen unabhängig werden.
Frauenrechte und Rechte von Queers
„Wir werden die Rechte aller Frauen verteidigen sowie den Glauben, den Lebensstil und die Identität aller respektieren“, kündigte Kilicdaroglu an – ganz im Gegensatz zu dem islamisch-konservativen Erdogan, für den LGBTIQ*„pervers“ sind. Als Chef der traditionell säkularen CHP-Partei versucht Kilicdaroglu das Vertrauen der religiös-konservativen Frauen dennoch zu gewinnen. Er will das Tragen des Kopftuchs gesetzlich garantieren. Außerdem soll in der Türkei wieder die Istanbul-Konvention gelten, die die Ahndung von Gewalt gegen Frauen vorschreibt, und aus der Ankara 2021 ausgetreten war.
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Die bisherigen Machtverhältnisse im türkischen Parlament
Hyperinflation stoppen
Die Opposition verspricht eine sofortige Abkehr von Erdogans „türkischem Wirtschaftsmodell“. Die Weigerung des Staatschefs, die Hyperinflation durch eine Anhebung der Zinssätze zu bekämpfen, hat die schlimmste Wirtschaftskrise seiner Amtszeit ausgelöst. Die offizielle jährliche Inflationsrate lag im vergangenen Jahr bei 85 Prozent. Unabhängige Ökonomen gehen von einer doppelt so hohen Rate aus. „Wer auch immer die Wahlen gewinnt, es ist unwahrscheinlich, dass sich die türkische Wirtschaft schnell erholen wird“, urteilt jedoch Erdal Yalcin, Professor für internationale Wirtschaft an der Universität Konstanz.
Vertrauen des Westens zurückgewinnen
Die Opposition ist sich bewusst, dass die Türkei ihre NATO-Verbündeten durch ihre Beziehungen zu Russland verärgert hat. Sie will das Vertrauen des Westens wiedergewinnen, gleichzeitig aber einen „ausgewogenen Dialog“ mit Moskau führen, um im Krieg gegen die Ukraine zu vermitteln. Das Bündnis strebe „eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union“ an, sagt Ahmet Ünal Ceviköz, Sonderberater von Präsidentschaftskandidat Kilicdaroglu. In der Außenpolitik wird Ceviköz zufolge die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Syrien Priorität haben. Diese Annäherung ist unerlässlich für die Rückführung der 3,7 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei „auf freiwilliger Basis“ binnen zwei Jahren - eine Ankündigung, die Menschenrechtler besorgt. *ck/AFP/sp/cp