Wie jedes Jahr bewertete ILGA-Europe die rechtliche und politische Situation von LGBTIQ*s in den europäischen Ländern und erstellt auf dieser Basis die Rainbow Map und den Rainbow Index. Dem vergangenen Jahr attestiert die Organisation einen „beunruhigenden Stillstand“.
Der wichtigste Befund der Rainbow Map 2021 ist, dass die Fortschritte bei LGBTI-Rechten in den letzten 12 Monaten fast vollständig zum Erliegen gekommen sind – das sei ein „zutiefst besorgniserregender Stillstand“, betonte die geschäftsführende Direktorin von ILGA-Europe, Evelyne Paradis:
„Im vergangenen Jahr haben wir eine verstärkte politische Unterdrückung von LGBTI-Personen, einen starken Anstieg der sozioökonomischen Schwierigkeiten und die Verbreitung von LGBTI-phobischem Hass auf den Straßen und im Internet in der Region erlebt.“
Paradis forderte die europäischen Regierungen auf, wieder konkretere Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Menschen nicht schlechter, sondern besser geschützt sind.
Auch Katrin Hugendubel von ILGA-Europe erklärte, es greife zu kurz, allein die COVID-19-Pandemie für die europaweite Stagnation verantwortlich zu machen:
„Es wäre leicht, die politische Aufmerksamkeit auf die Reaktion der öffentlichen Gesundheit auf COVID-19 und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Auswirkungen zu lenken, aber die Realität ist viel komplexer. In zu vielen Ländern wird der Fortschritt gestoppt, weil die politische Polarisierung in LGBTI-Fragen zunimmt, weil einige gewählte Beamte keine Gewinne mehr durch die Unterstützung der LGBTI-Gleichstellung sehen und weil die Regierungen dies nicht als vorrangiges Thema ansehen.“
Die Ergebnisse im Überblick
Zur Bewertung für den Rainbow Index und die Rainbow Map erfasst ILGA-Europe jährlich die gesetzlichen Standards eines jeden Landes und vergleicht diese mit 48 europäischen Nachbarländern hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die queere Community. Herangezogen wurden insgesamt 71 Kriterien in den Kategorien „Gleichheit und Nichtdiskriminierung“, „Familie“, „Hassverbrechen und Hassreden“, „Rechtliche Anerkennung des Geschlechts und körperliche Unversehrtheit“, „Zivilgesellschaftlicher Raum“ und „Asyl“. Mit „Nicht-binäre Anerkennung“ und „Für Minderjährige gibt es gesetzliche Verfahren zur Anerkennung des Geschlechts“ gab es diesmal auch zwei neue Indikatoren.
Gleichheit und Nichtdiskriminierung
Gleichstellungsaktionspläne sind in Albanien, Norwegen und in der Ukraine abgelaufen, Frankreich und das Kosovo weisen Mängel und Umsetzungsprobleme mit ihren Aktionsplänen auf. Die Aktionspläne von Finnland, Irland, Schweden und in Deutschland dem Saarland waren die einzigen neuen, die in diesem Jahr Punkte erhielten.
Albanien hat den Schutz von Geschlechtsmerkmalen in die Antidiskriminierungsgesetzgebung aufgenommen. Die spanische Region Kantabrien hat ein neues Antidiskriminierungsgesetz eingeführt, das sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und Geschlechtsmerkmale beinhaltet. Ein polnisches Gericht stellte klar, dass das Gesetz die Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität am Arbeitsplatz verbietet.
Portugal und Nordirland (UK) haben alle Beschränkungen für LGBTI-Personen zur Blutspende aufgehoben, sodass jeder sicher und gleichermaßen Blut spenden kann. Die Ukraine hat eine ähnliche Änderung angekündigt, die jedoch noch nicht in Kraft getreten ist.
Familie
Die Anerkennung der Familiengesetzgebung stagniert in ganz Europa. In diesem Jahr gab es keine einzige rechtliche oder politische Änderung, die LGBTI-Personen betraf.
Verwunderlich ist, dass Fragen zur Leihmutterschaft als Reproduktionstechnik im Bericht zur Gänze ausspart werden.
Hassverbrechen und Hassreden
Norwegen war das einzige Land, das den gesetzlichen Schutz vor Hassverbrechen ausweitete, indem es sein Strafgesetzbuch änderte, um den Tatbestand der Geschlechtsidentität hinzuzufügen.
Rechtliche Anerkennung des Geschlechts und körperliche Unversehrtheit
Seit dem 6. Januar 2021 gilt in Island die gesetzliche Anerkennung für nicht-binäre Menschen. Das Land ist damit das einzige Land in Europa, in dem in den letzten 12 Monaten die Rechte von Trans*-Menschen vorangeschritten sind.
In Nordirland wurde der Zugang zu trans*-spezifischer Gesundheitsversorgung fast unmöglich. Trans*-Personen erhalten ohne Privatversicherung keinen Zugang zu medizinischen Gutachten, was eine Klassenbarriere für den Zugang zur Anerkennung des Geschlechts schafft.
Zivilgesellschaftlicher Raum
Nordmazedonien und Bosnien und Herzegowina hatten in den letzten drei Jahren keine staatliche Behinderung der Versammlungsfreiheit, außerdem wurden Pride-Veranstaltungen von der Polizei angemessen geschützt.
Polens zivilgesellschaftlicher Raum ist in diesem Jahr stärker geschrumpft, weil Menschen bei öffentlichen Veranstaltungen aktiv von der Polizei angegriffen werden, anstatt geschützt zu werden. Auch bei der Meinungsfreiheit verlor Polen Punkte wegen der Anti-LGBT-Resolutionen, die von den lokalen Regierungen verabschiedet wurden.
Auch Georgien folgt einem negativen Trend. Das Land hat aufgrund einer Reihe von Angriffen gegen LGBTI-Menschenrechtsverteidiger*innen in den letzten 12 Monaten Punkte verloren.
Asyl
Malta führte neue Änderungen des Flüchtlingsgesetzes ein und veröffentlichte neue Richtlinien zu Asylanträgen. Dies war nur eine Entwicklung in Bezug auf den Schutz der LGBTI-Asylrechte in den letzten 12 Monaten.
Die finnische Politik gegenüber LGBTI-Asylbewerber*innen wird dafür kritisiert, dass sie nur projektbasiert ist und keinen systematischen Ansatz verfolgt oder eine systematische Politik entwickelt. Auf Grundlage dieses Berichts gab es einen Punkteabzug.
Und wie sieht es in Deutschland aus?
Aktuell erfüllt Deutschland 52 Prozent der von ILGA-Europe aufgestellten Kriterien für eine komplette Gleichstellung von LGBTIQ*-Personen. Insgesamt hat sich die Situation in Deutschland um einen Prozentpunkt verbessert. Damit liegt Deutschland erneut weit hinter Malta, das sich um 5 Prozentpunkte verbessert konnte.
Grafik: https://www.rainbow-europe.org/#8635/0/0
Der Jahresbericht von ILGA-Europe gibt einen differenzierten und detaillierten Überblick über die Fortschritte eines jeden Landes und dessen Entwicklung auf internationaler Ebene, so auch für Deutschland.
Um in Deutschland die rechtliche und politische Situation von LGBTI-Personen zu verbessern, empfiehlt ILGA-Europe:
- Gewährung des verfassungsmäßigen Schutzes von LGBTI-Personen durch die ausdrückliche Berücksichtigung von sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmalen.
- Entwicklung eines fairen, transparenten Rechtsrahmens für die rechtliche Anerkennung des Geschlechts auf der Grundlage eines Prozesses der Selbstbestimmung und Depathologisierung von transidenten Personen.
- Anerkennung der Trans*-Elternschaft, Anerkennung des legalen Geschlechts der Eltern und Angleichung an die verfügbaren Geschlechtsoptionen.