Mit der heute veröffentlichten Rainbow Map 2025 liefert ILGA-Europe ein umfassendes Bild der rechtlichen Lage von LGBTIQ*-Personen in 49 europäischen Staaten. Deutschland erreicht mit einem Gesamtwert von 66.13% Platz acht im Ranking, knapp hinter Griechenland und vor Norwegen. Im Vorjahr lag die Bundesrepublik noch auf Platz elf. Dieser Aufstieg scheint auf den ersten Blick ein Erfolg. Doch ILGA-Europe macht deutlich: Deutschlands Verbesserungen beruhen größtenteils auf angekündigten, nicht auf umgesetzten Reformen. Zugleich verlieren viele andere Staaten weiter an Boden. Der dritte Platz sagt damit vor allem eines: Europa ist queerpolitisch tief gespalten – und Deutschland steht an einem entscheidenden Scheideweg.
Was die Rainbow Map misst – und was nicht
Die Rainbow Map und der dazugehörige Rainbow Index analysieren auf Grundlage eines standardisierten Bewertungsrasters insgesamt 74 Indikatoren. Sie betreffen unter anderem:
- Antidiskriminierungsschutz in Arbeit, Bildung, Gesundheit, Güter & Dienstleistungen
- Gleichstellung im Familienrecht, insbesondere bei Adoption und Fortpflanzungsmedizin
- Schutz vor Hasskriminalität und Hassrede
- Rechtliche Anerkennung von Trans-, nicht-binären und intergeschlechtlichen Personen
- Selbstbestimmung über den eigenen Körper (insbesondere für inter Kinder)
- Rechte queerer Geflüchteter
- Zivilgesellschaftliche Freiheiten (Meinungsäußerung, Versammlung, Vereinsarbeit)
Der Index bewertet nur rechtliche und politische Rahmenbedingungen – nicht aber deren Umsetzung in der Praxis oder gesellschaftliche Einstellungen. Auch Daten zu Diskriminierung, Gewalt oder Suizidalität queerer Menschen fließen nicht ein.
Deutschlands Aufstieg im Ranking – Reformen in der Warteschleife
ILGA-Europe hebt in seinem Bericht hervor, dass das Selbstbestimmungsgesetz einen bedeutenden Fortschritt darstellt. Es ersetzt das seit 1981 geltende Transsexuellengesetz und ermöglicht trans sowie nicht-binären Personen seit dem 1. November 2024 eine vereinfachte und diskriminierungsfreie Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag durch Selbstauskunft beim Standesamt – ohne medizinische Gutachten oder Gerichtsverfahren.
Deutschlands Sprung vom zehnten auf den achten Platz im ILGA-Ranking 2025 ist in erster Linie auf angekündigte Gesetzesreformen zurückzuführen, darunter das Selbstbestimmungsgesetz und die geplante Reform des Abstammungsrechts. Letztere sieht vor, dass in lesbischen Partnerschaften künftig beide Frauen automatisch als rechtliche Mütter anerkannt werden, sofern das Kind gemeinsam gewollt wurde. Diese Reform wurde von der Bundesregierung angekündigt, befand sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Rainbow Map aber noch im Gesetzgebungsverfahren.
Trotz dieser Fortschritte bleiben viele grundlegende Forderungen offen. Deutschland verfügt weiterhin über kein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz, das sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität flächendeckend in allen Lebensbereichen schützt – etwa im Gesundheitswesen, im Bildungsbereich oder bei der Wohnungssuche. Die bestehenden Regelungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) gelten nur eingeschränkt und bieten keinen lückenlosen Schutz.
Auch das seit 2020 geltende Verbot sogenannter Konversionstherapien ist lückenhaft. Es gilt lediglich für Minderjährige und für Fälle, in denen Erwachsene durch Zwang oder Täuschung zur „Therapie“ bewegt wurden. ILGA-Europe kritisiert, dass Erwachsene faktisch kaum geschützt sind, es an wirksamer Kontrolle fehlt und bisher kaum strafrechtliche Konsequenzen erfolgt sind.
Die Begutachtungspflicht im Zusammenhang mit der Personenstandsänderung wurde mit dem Selbstbestimmungsgesetz zwar formal abgeschafft, in anderen medizinischen Kontexten – etwa für geschlechtsangleichende Behandlungen – bestehen jedoch weiterhin strukturelle Hürden und Anforderungen, die auf veralteten Vorstellungen basieren.
Nicht-binäre Personen sind in Deutschland bisher nicht umfassend gesetzlich anerkannt. Zwar kann der Geschlechtseintrag als „divers“ geführt werden, doch fehlt eine klare gesetzliche Grundlage, aus der konkrete Rechte, z. B. im Arbeitsrecht, abgeleitet werden könnten. Rechtssicherheit besteht oft nur in Einzelfällen.
Intergeschlechtliche Kinder sind seit 2021 gesetzlich vor nicht medizinisch notwendigen Operationen geschützt. In der Praxis jedoch werden diese Schutzvorgaben laut ILGA-Europe häufig umgangen. Es mangelt an verbindlichen medizinischen Leitlinien, unabhängiger Aufsicht und rechtlicher Durchsetzbarkeit. Eingriffe finden mitunter weiterhin ohne informierte Zustimmung statt.
Große Unterschiede innerhalb Deutschlands
Die Rainbow Map bewertet ausschließlich nationale Gesetzgebung – aber auch innerhalb Deutschlands bestehen gravierende Unterschiede zwischen den Bundesländern. So gibt es etwa in Berlin und Hamburg explizite Landesaktionspläne für die Gleichstellung von LGBTIQ*-Personen, inklusive Ansprechstellen, Förderprogrammen und Fortbildungsangeboten für Verwaltung und Polizei. In Bayern hingegen wird queere Community-Arbeit bis heute kaum strukturell gefördert. Der Landesaktionsplan LGBTIQ*, der bereits 2018 angekündigt wurde, liegt weiterhin auf Eis.
Auch beim Thema Schule und Bildung gehen die Länder unterschiedlich vor. Während Nordrhein-Westfalen, Berlin oder Brandenburg queere Inhalte explizit in den Lehrplänen verankert haben, findet man in konservativ regierten Ländern wie Sachsen oder dem Saarland kaum verbindliche Vorgaben.

Foto: Spartacus
SPARTACUS GAY TRAVEL INDEX (GTI) 2025
Ein zweiter Blick auf die Realität: Der Spartacus Gay Travel Index
Neben der Rainbow Map bietet der jährlich erscheinende Spartacus Gay Travel Index eine komplementäre Perspektive auf die globale Lage von LGBTIQ*-Rechten – mit einem Fokus auf Reisebedingungen, gesellschaftliche Sicherheit und strafrechtliche Risiken. Während ILGA-Europe vor allem rechtliche Rahmenbedingungen innerhalb Europas bewertet, berücksichtigt der Spartacus-Index auch Reisewarnungen, gesellschaftliche Homofeindlichkeit und das Risiko von Verfolgung oder Gewalt. Deutschland erreicht im Gay Travel Index 2025 erneut 26 von 31 möglichen Punkten und teilt sich damit den 6. Platz mit Neuseeland. Die Spitzengruppe bilden Kanada, Island, Malta, Portugal und Spanien mit jeweils 31 Punkten. Zwar zeigt sich Deutschland damit als vergleichsweise queerfreundliches Reiseziel, aber auch hier weist Spartacus auf Schwachstellen hin: So wird beispielsweise die mangelnde gesetzliche Anerkennung nicht-binärer Identitäten oder die unvollständige Umsetzung des Verbots von Konversionstherapien negativ gewertet. Der Index ergänzt die Rainbow Map um die alltagspraktische Frage: Wie sicher ist ein Land tatsächlich für queere Menschen – nicht nur auf dem Papier, sondern im konkreten Erleben?
Europäische Rechtslage: Fortschritte mit Schlupflöchern
Deutschland ist an eine Vielzahl europäischer und völkerrechtlicher Verpflichtungen gebunden, darunter:
- Artikel 21 der EU-Grundrechtecharta, der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung untersagt. Allerdings gilt die Charta nur für Bereiche, in denen EU-Recht Anwendung findet (z. B. Arbeitsrecht, Binnenmarkt).
- Die EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (2000/78/EG) schützt gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz – aber nicht im Bereich Wohnen, Bildung oder Gesundheit. Eine geplante EU-Antidiskriminierungsrichtlinie, die dies ausweiten würde, liegt seit 2008 wegen Blockaden durch konservative Mitgliedsstaaten (u. a. Deutschland unter CDU-geführten Regierungen) auf Eis.
- Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mehrfach entschieden, dass Staaten ein rechtliches Anerkennungsverfahren für Transpersonen schaffen müssen (z. B. in „Goodwin v. UK“, 2002). Auch die Rechte queerer Familien werden zunehmend gestärkt – zuletzt in „Fedotova v. Russia“, wo der EGMR Russland verurteilte, weil es gleichgeschlechtlichen Paaren jede rechtliche Anerkennung verweigerte.
Deutschland erfüllt viele dieser Standards – aber teilweise nur formal oder halbherzig.
Die Spaltung Europas vertieft sich
Der ILGA-Europe-Bericht 2025 macht deutlich, dass sich Europa queerpolitisch immer stärker polarisiert. Während einige Länder gezielt Gleichstellungspolitiken ausbauen und gesetzlich verankern, kommt es in anderen Staaten zu massiven Rückschritten, in denen queere Rechte bewusst eingeschränkt oder abgeschafft werden. Besonders dramatisch ist die Entwicklung in Polen und Ungarn, die mit 20.5 beziehungsweise 22.8 Prozent am unteren Ende der EU-internen Skala liegen. In Polen hat die Regierung über Jahre hinweg sogenannte „LGBT-freie Zonen“ toleriert und finanziert gleichzeitig keine queeren Projekte mehr. Der Zugang zu umfassender Aufklärung in Schulen wird systematisch blockiert. In Ungarn ist die rechtliche Änderung des Geschlechtseintrags seit 2020 de facto unmöglich – eine gezielte Maßnahme, um trans Personen aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. Zugleich werden Medien und NGOs, die sich für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt einsetzen, unter Druck gesetzt.
In Russland, das mit nur 2 Prozent am untersten Ende des gesamten Rankings steht, wurde im Jahr 2023 eine umfassende Gesetzgebung verabschiedet, die jede öffentliche Darstellung von queeren Lebensrealitäten unter Strafe stellt. Dazu gehören etwa Filme, Bücher, Veranstaltungen, Symbole oder Social-Media-Inhalte. Die queerfeindliche Repression geht mit Überwachung, Zensur und strafrechtlicher Verfolgung einher. Auch in Aserbaidschan, Armenien und der Türkei sind queere Menschen staatlicher Verfolgung, Polizeigewalt und sozialen Ausgrenzungsmechanismen ausgesetzt – teilweise ohne jeglichen rechtlichen Schutz.
Aber selbst in traditionell progressiven Ländern gibt es Defizite. So kritisiert ILGA-Europe etwa in Frankreich, das mit 61 Prozent im oberen Mittelfeld liegt, dass die Rechte von trans Personen rechtlich nicht ausreichend verankert sind. Die Verfahren zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts sind kompliziert und medizinisch aufgeladen. Zudem fehlt bis heute eine gesetzlich verankerte automatische Elternschaftsanerkennung für lesbische Paare, was betroffene Familien in rechtliche Unsicherheit stürzt. In Italien stagnieren queerpolitische Reformen seit dem Regierungsantritt der rechtskonservativen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Der „DDL-Zan“, ein Gesetzesentwurf gegen Homo- und Transfeindlichkeit, wurde 2021 im Senat blockiert – und seither hat sich kaum etwas bewegt. Weder trans Rechte noch die rechtliche Absicherung von Regenbogenfamilien wurden seither verbessert. Vielmehr wird queeres Leben zunehmend politisch delegitimiert und öffentlich angegriffen.

Foto: ILGA Europe
Ein Appell an die Bundesregierung – und an Europa
ILGA-Europe appelliert klar: Rechtsgleichheit darf nicht bloße Fassade sein. Es reicht nicht, Fortschritt anzukündigen – entscheidend ist, ob Menschenrechte im Alltag spürbar sind. Deutschland müsse dafür sorgen, dass bestehende Schutzgesetze wirksam durchgesetzt werden und Lücken geschlossen werden: etwa im Familienrecht, im Gesundheitssystem, im Bildungssystem und im Umgang mit Queerfeindlichkeit im Netz.
Gleichzeitig braucht es ein aktives europäisches Eintreten gegen queerfeindliche Regime. Die EU habe mit dem Rechtsstaatsmechanismus und der Kürzung von Fördergeldern an Polen oder Ungarn erste Zeichen gesetzt. Aber ILGA warnt: Der Schutz queerer Menschen muss ein zentrales Kriterium für EU-Mitgliedschaft, Fördermittel und Rechtsstaatlichkeit bleiben – auch über Wahlperioden hinaus.
Deutschland hat als wirtschaftlich und politisch starker Staat die Verantwortung, nicht nur Vorreiter im Gesetzestext zu sein – sondern auch glaubwürdiger Partner in der Umsetzung.
Queere Geflüchtete: Asylverfahren oft ohne Schutz
Ein weiterer zentraler Punkt im ILGA-Ranking betrifft den Schutz queerer Geflüchteter. Zwar erkennt Deutschland sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Asylgrund an, doch die Umsetzung ist problematisch. Viele Betroffene berichten von Unwissen und Unsensibilität in Anhörungen, fehlerhaften Übersetzungen, misstrauischer Befragung oder gar von Diskriminierung durch Mitbewohner*innen in Gemeinschaftsunterkünften.
Laut einer Studie der Organisation Queer Refugees Deutschland trauen sich viele queere Geflüchtete nicht, ihre Identität im Verfahren offen zu machen – aus Angst vor Ablehnung oder Gewalt. Ein flächendeckendes Schulungssystem für Mitarbeitende des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie für Dolmetschende fehlt bis heute.
Die Rainbow Map bewertet hier, ob Asylrecht explizit Schutz für LGBTIQ*-Personen bietet, ob Verfahren sensibilisiert sind und ob es ergänzende Schutzmaßnahmen gibt – etwa getrennte Unterkünfte oder sichere Meldekanäle. Deutschland erfüllt hier laut ILGA nur einen Teil der Kriterien.
Digitale Räume: Hate Speech als wachsende Bedrohung
Auch beim Umgang mit Hassrede im Internet sieht ILGA-Europe Handlungsbedarf. Zwar wurde mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ein Instrument geschaffen, das Plattformen zur Löschung strafbarer Inhalte verpflichtet – aber queere Gruppen berichten immer wieder von ineffektiver Moderation, algorithmischer Unsichtbarmachung (Shadowbanning) und fehlender Unterstützung bei digitaler Gewalt.
Eine aktuelle Studie des Zentrums für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) zeigt, dass queerfeindliche Narrative in rechten Online-Ökosystemen massiv zunehmen – oft gezielt verknüpft mit Antifeminismus, Verschwörungstheorien oder transfeindlicher Rhetorik. ILGA-Europe fordert hier europaweit bessere Schutzmaßnahmen für queere User*innen, mehr Ressourcen für Monitoringstellen und klarere gesetzliche Leitlinien für Plattformbetreiber.
EU-Parlament als queerpolitische Akteurin?
Ein Hoffnungsträger auf europäischer Ebene ist das Europäische Parlament. In mehreren Resolutionen hat es sich in den vergangenen Jahren für den Schutz und die Gleichstellung von LGBTIQ*-Menschen ausgesprochen – etwa mit der Erklärung der EU zur „LGBTIQ-Freiheitszone“ im Jahr 2021, mit klaren Verurteilungen queerfeindlicher Politik in Ungarn und Polen oder mit Forderungen nach einer Reform des europäischen Asylrechts.
Doch diese Initiativen sind politisch nicht bindend. Für verbindliche Maßnahmen bräuchte es die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten im Rat – und genau hier scheitert es häufig. Deutschland könnte auf EU-Ebene eine aktive Rolle spielen, etwa durch diplomatischen Druck, gezielte Förderprioritäten oder Unterstützung für eine neue Antidiskriminierungsrichtlinie. Doch bislang bleibt die Bundesregierung hier auffällig zurückhaltend. *Quelle: ILGA Europe