Oder: Warum identifizieren sich Männer, die Sex mit anderen Männern haben, noch immer als heterosexuell? Ein Soziologieprofessor aus Kanada will nun Antworten darauf gefunden haben. In seinem Buch „Still Straight: Sexual Flexibility Among White Men in Rural America“ („Immer noch hetero: Sexuelle Flexibilität unter weißen Männern im ländlichen Amerika“) erforscht Tony Silva das heimliche Sexleben von Männern, die sexuelle Beziehungen oder sogar Liebesverhältnisse mit anderen Männern haben, sich aber weiterhin als heterosexuell identifizieren.
Man kennt das: Ein paar schwule Freunde sitzen beisammen, einer erzählt schließlich, dass er Sex mit einem Hetero hatte. Während zwei Freunde ihm anerkennende Blicke zuwerfen, behauptet der Dritte: „Schätzchen, wenn er Sex mit dir hatte, war es kein Hetero“. Gelächter; dann ist das Thema vom Tisch.
Auf der Grundlage von 60 Interviews stellt Tony Silva in seinem Buch diese gängige Vorstellung und das Vorurteil, dass solche Männer ihre Bi- oder sogar Homosexualität aufgrund von gesellschaftlicher Homophobie verstecken, in Frage. Silva ist Assistenzprofessor für Soziologie an der renommierten University of British Columbia in Kanada, der Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf Gender und Sexualität. In der kanadischen Wochenzeitung The Georgia Straight erklärte er:
„Die Mehrheit der Männer, die ich interviewt habe, berichtete, dass sie sich in erster Linie zu Frauen hingezogen fühlen, nicht zu Männern.“
Viele Gründe für Sex unter Männern
Auch bei den Griechen war es gang und gäbe – in den letzten 3000 Jahren hat sich daran nicht viel geändert. Auf der Basis seiner Forschungsgespräche nennt Silva mehrere mögliche Gründe, die heterosexuelle Männer dazu bringen können, sich männliche Liebhaber zu nehmen. Besonders interessant und ironisch findet Silva, dass vor allem ihre konservativen Überzeugungen über die Geschlechter viele Männer dazu bringe, Sex mit anderen Männern zu haben.
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Bananen Sex
So hätten einige angegeben, sich nach Nähe gesehnt und eine Möglichkeit gesucht zu haben, menschliche Berührungen auf eine Art zu erhalten, die sich immer noch männlich anfühlt. Für manche bedeute Sex mit Männern aber auch Vergnügen ohne den Druck, die Kontrolle übernehmen zu müssen. Ein weiterer Grund sei der Wunsch nach einem aktiveren Sexleben – anders als Sex mit einer anderen Frau betrachten diese Männer Sex mit gleichgeschlechtlichen Liebhabern als „Schlupfloch“ und nicht als Ehebruch. Einige suchten sich bewusst keine weibliche Geliebte, da sie aufgrund von geschlechtlichen Stereotypen Angst hatten, sie könnte emotional anhänglich werden und in der Folge die Ehe bedrohen.
„Sexuelles Verhalten löscht sexuelle Identität nicht aus“
Die Männer, mit denen Silva sprach, identifizierten sich zu einem Großteil als heterosexuell. Sexualität sei multidimensional, so Silva. Attraktionen, Verhaltensweisen und Identitäten stimmen nicht immer überein – wenn also ein als heterosexuell identifizierter Mann Sex mit einem anderen Mann hatte, sehe er sich danach trotzdem noch als hetero an, sagte der Professor.
Bereits Anfang März sorgte ein Sextherapeut aus Michigan, USA, mit TikTok-Videos für Kontroversen. Darin stellte auch er die Behauptung auf, Heteromänner, die mit anderen Männern schlafen, müssten nicht im Geringsten schwul sein. Sie könnten sich vielmehr einfach zu dem Akt selbst hingezogen fühlen, nicht zu dem Mann. Er sagte:
„Wenn Hetero-Männer Sex mit Männern haben, ist das keine schwule Sache, sondern eine Männersache.“1
Dr. Joe Kort, der selbst schwul ist, ist laut seiner Website, ein „führender Experte für Sex und Beziehungen“. Er ist ein zertifizierter Sexologe, hat einen Doktortitel in klinischer Sexologie von der American Academy of Clinical Sexologists (AACS) und ist ein lizenzierter klinischer Sozialarbeiter.
Er prangerte an, dass es ein gesellschaftliches Stigma bezüglich männlicher sexueller Flexibilität gäbe. Es sei paradox: Wenn ein Mann objektivierten Sex habe, bei dem es ihm nur um den Akt und den Orgasmus selbst ginge – etwas, das wie Kort betont, unter Männern viel häufiger passiere als unter Frauen – würde ihm die Gesellschaft das Gefühl geben, kein ganzer Mann zu sein.
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Banane Penis
In einem anderen Video versuchte er, seinen Zuhörer*innen den Unterschied zwischen Identität und Verhalten zu erklären. Als Beispiel nannte er, dass er immer noch schwul wäre – auch wenn er nie wieder Sex hätte. Das Verhalten überschreibe nicht die Identität eines Menschen, so Kort.
„Wenn Heteromänner Sex mit Männern haben, sind sie immer noch heterosexuell, es löscht die Heterosexualität genauso wenig aus, wie wenn schwule Männer Sex mit Frauen haben. Sie sind immer noch schwul. Es löscht ihre Homosexualität nicht aus.“
Trotzdem: Auch Vermeiden von Stigmatisierung kann eine Rolle spielen
Wenngleich auch UBC-Professor Tony Silva deutlich macht, dass die Identität eines jeden Menschen seine eigene Definitionssache sei, nennt er einige Gründe, die dazu führen könnten, dass ein Mann sich eher als hetero- denn als bisexuell fühlt und bezeichnet. Die meisten seiner Interviewpartner identifizierten sich als hetero, weil sie das Gefühl hatten, dass dies ihre romantischen Beziehungen zu Frauen, ihre Integration in Gemeinschaften, oder die Art, wie sie ihre Männlichkeit verstehen, am besten widerspiegelt.
„Sich als heterosexuell zu identifizieren bedeutete auch, dass sie Stigmatisierung vermeiden konnten und sich mit einer sozial dominanten Gruppe verbunden fühlten. Viele hatten das Gefühl, dass Sex mit Männern angesichts anderer Aspekte ihres Lebens für ihre Identität irrelevant war. Sie hatten das Gefühl, dass Heterosexualität und Männlichkeit 'normal' waren und von ihnen erwartet wurden.“
Zwar sei es verständlich, dass die Gesellschaft solche Männer oft als „ungoutet“ ansähe, dies sei aber nicht ganz richtig, so Silva. Sie seien verschlossen bezogen auf ihr sexuelles Verhalten, nicht jedoch in Bezug auf ihre Identität – denn für sie seien sexuelle Begegnungen mit Männern für ihre Identität meist nicht von Bedeutung.
1 Die deutsche Übersetzung könnte abwertend verstanden werden – im Original ist das Zitat aufgrund der Ähnlichkeit der Worte 'gay' und 'guy', die als Stilmittel verwendet wurde, verständlicher: „When straight men have sex with men, it’s not a gay thing, it’s a guy thing“