SPD, Grüne & FDP haben in Berlin den Koalitionsvertrag für die kommenden vier Jahre vorgestellt. Für LGBTIQ* beginnt, sodenn die Vorhaben umgesetzt werden können, eine goldene Zeit.
Im ersten Überblick scheinen alle queerpolitischen Fragen und Forderungen der letzten beiden Jahrzehnte in dem Vertrag abgeräumt zu werden.
Foto: Tobias Schwarz / AFP
1. Antidiskriminierungspolitik allgemein
- Sicherstellung der Unabhängigkeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes: angemessen Ausstattung mit Personal und Budget, Stärkung ihrer Kompetenzen, Wahl der Leitung vom Bundestag
- flächendeckender Ausbau und nachhaltige Finanzierung (20 Mio. pro Jahr) eines Netzwerkes zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen gegen Diskriminierung (in Kooperation mit den Ländern)
- Evaluation und Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (Schließung der Schutzlücken, Verbesserung des Rechtsschutzes und Ausweitung des Anwendungsbereichs)
2. Art. 3 Abs. 3 GG
- Ergänzung des Gleichbehandlungsartikels des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 GG) um ein Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Identität und Ersetzung des Begriffs „Rasse“
3. Aktionsplan
- ressortübergreifender Nationaler Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt mit eigenem Haushaltstitel i.H.v. 70 Mio. Euro pro Jahr
- Unterstützung der Länder bei der Aufklärung an Schulen und in der Jugendarbeit,
- Förderung der Angebote für ältere LSBTI
- Diversity Management in der Arbeitswelt (insbesondere im Mittelstand und im öffentlichen Dienst)
- dauerhaft Absicherung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld im Bundeshaushalt auf deutlich höherem Niveau
4. Hasskriminalität
- explizite Aufnahme geschlechtsspezifischer und homosexuellenfeindlicher Beweggründe in den Katalog des § 46 Abs. 2 StGB (Grundsätze der Strafzumessung)
- separate Erfassung von Hasskriminalität aufgrund des Geschlechts und gegen queere Menschen durch die Polizeien von Bund und Ländern
5. Regenbogenfamilien und Modernisierung des Familienrechts
- Gleichstellung von Zwei-Mütter-Familien im Abstammungsrecht („Wenn ein Kind in die Ehe zweier Frauen geboren wird, sind automatisch beide rechtliche Mütter des Kindes, sofern nichts anderes vereinbart ist.“)
- Ermöglichung der Vereinbarungen zu rechtlicher Elternschaft, elterlicher Sorge, Umgangsrecht und Unterhalt vor der Empfängnis
- Ermöglichung einer Elternschaftsanerkennung auch außerhalb der Ehe und unabhängig vom Geschlecht der anerkennenden Person
- Ausweitung des „kleinen Sorgerechts“ für soziale Eltern und Weiterentwicklung zu einem eigenen Rechtsinstitut, das im Einvernehmen mit den rechtlichen Eltern auf bis zu zwei weitere Erwachsene übertragen werden kann
- Einführung des Instituts der Verantwortungsgemeinschaft (rechtlich relevante Übernahme der Verantwortung zwei oder mehr volljähriger Personen jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe)
- diskriminierungsfreie Förderung künstlicher Befruchtung auch bei heterologer Insemination, unabhängig von medizinischer Indikation, Familienstand und sexueller Identität
6. Trans- und intergeschlechtliche Menschen
- Abschaffung des Transsexuellengesetzes und Ersetzung durch ein Selbstbestimmungsgesetz (Verfahren beim Standesamt, Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand grundsätzlich per Selbstauskunft, ein erweitertes und sanktionsbewehrtes Offenbarungsverbot und eine Stärkung der Aufklärungs- und Beratungsangebote)
- vollständige Kostenübernahme geschlechtsangleichender Behandlungen von der GKV
- Beseitigung der Umgehungsmöglichkeiten im Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung
- Einrichtung eines Entschädigungsfonds für trans- und intergeschlechtliche Personen, die aufgrund früherer Gesetzgebung von Körperverletzungen oder Zwangsscheidungen betroffen sind
7. Blutspende
- Abschaffung des Blutspendeverbots für Männer, die Sex mit Männern haben, sowie transgeschlechtlichen Personen (nötigenfalls auch gesetzlich)
8. Konversionsbehandlungen
- Aufhebung der Strafausnahmen in Bezug auf Erziehungsberechtigten
- Prüfung eines vollständigen Verbots an Erwachsenen
9. Queere Geflüchtete
- Überprüfung des Asylverfahrens für queere Verfolgte (z.B. Dolmetscher, Beurteilung der Verfolgungswahrscheinlichkeit bei Rückkehr),
- sicherere Unterbringung
- Einrichtung besonderer Rechtsberatung
10. Europäische Union
- Anerkennung von Regenbogenfamilien und in der EU geschlossenen gleichgeschlechtlichen Ehen/Lebenspartnerschaften in allen Mitgliedsstaaten mit allen Rechtsfolgen
- „Rechtsakte der EU, die gegen Diskriminierung aufgrund von Rassismus gelten, müssen künftig auch Homophobie und andere Diskriminierung umfassen.“
11. Außenpolitik
- Einsatz für eine an den Yogyakarta Prinzipien orientierte Konvention der Vereinten Nationen für LSBTI-Rechte
- Stärkung der Rechte, Repräsentanz und Ressourcen von Frauen, Mädchen und marginalisierter Gruppen wie LSBTI
Foto: Fraktion Bündnis90/Grüne
Ulle Schauws und Sven Lehmann
Zu den Ergebnissen der Koalitionsverhandlungen im Bereich Queerpolitik erklären Ulle Schauws und Sven Lehmann von der grünen Bundestagsfraktion:
„Nach 16 Jahren Stillstand kommt jetzt endlich der queerpolitische Aufbruch, den wir Grüne versprochen haben. Wir sind mehr als zufrieden mit dem Koalitionsvertrag im Bereich Queer. In einer demokratischen Gesellschaft muss jeder Mensch jederzeit und an jedem Ort ohne Angst er selbst sein können, ohne Diskriminierung. Diesem Ziel eines selbstbestimmten und diskriminierungsfreien Lebens und gleichberechtigter Teilhabe kommen wir in den nächsten vier Jahren einen entscheidenden Schritt näher. Damit kann Deutschland aufschließen zu den Ländern, in denen queeres Leben und Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt politisch klar verankert ist. Mit unseren geplanten Maßnahmen für eine vielfältige Gesellschaft und gegen bestehende Diskriminierung und Queerfeindlichkeit wird Deutschland ein offeneres und lebenswerteres Land für Alle sein.“
Foto: FDP
Jens Brandenburg
Auch Jens Brandenburg, Queerpolitiker der FDP-Bundestagsfraktion zeigt sich in einer Pressemitteilung zufrieden:
„Der queerpolitische Stillstand findet endlich ein Ende. Die Ampel hat sich auf eine große Fortschrittsagenda zur Stärkung der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt geeinigt. Das ist ein Grund zur Freude, aber auch eine große Verantwortung. In keiner anderen Konstellation wäre das möglich gewesen. Nach 16 Jahren Blockade durch die Union kann jetzt ein großer Wurf gelingen. Das diskriminierende Blutspendeverbot und das ewiggestrige Transsexuellengesetz schaffen wir ab. Wir ergänzen Artikel 3 Grundgesetz, schaffen einen Nationalen Aktionsplan zum Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, stärken Regenbogenfamilien und LSBTI-Menschenrechte weltweit. Wichtige Reformen dürfen jetzt nicht länger in der Ressortabstimmung versanden. Auf bereits vorliegenden Gesetzentwürfen der letzten Jahre können wir gut aufbauen. Deutschland wird bunter. Das ist ein gutes Signal für die gesamte Community!“
Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) hat den Ampel-Koalitionsvertrag als „den geforderten queerpolitischen Aufbruch“ begrüßt. Der Vertrag enthalte zentrale Vorhaben mit vielversprechender Signalwirkung, erklärte der LSVD am Mittwoch in Berlin. Die vereinbarten Ziele bedeuteten eine spürbare Verbesserung der Rechte von Lesben, Schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI). Konkret lobte der LSVD den geplanten nationalen Aktionsplan gegen LSBTI-Feindlichkeit und den geplanten verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutz in Artikel drei des Grundgesetzes. Zudem hob der LSVD die geplante Reform des Familien- und Abstammungsrechts für Regenbogenfamilien sowie den Ersatz des "demütigenden Transsexuellengesetzes" durch eine menschenrechtskonforme Anerkennung geschlechtlicher Selbstbestimmung hervor.