Finnland startet zum Jahreswechsel
Nach der bisherigen finnischen Gesetzgebung, die gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt, musste eine Person ihre Unfruchtbarkeit nachweisen, bevor ihr die rechtliche Anerkennung des Geschlechts gewährt werden kann. Außerdem musste die Person einen langwierigen Diagnoseprozess mit psychiatrischer Begutachtung und Hormontherapie durchlaufen.
Foto: Jussi Nukari / Lehtikuva / AFP
FINLAND-PRIDE-MARCH
Die finnische Premierministerin Sanna Marin am 2. Juli 2022 am Helsinki Pride March.
Ab Januar 2024 sollen trans Personen, die 18 Jahre oder älter sind, ihr Geschlecht durch eine Selbsterklärung legal ändern können, ohne ein psychiatrisches Gutachten oder eine Bescheinigung über ihre Fortpflanzungsfähigkeit vorlegen zu müssen. Nach dem neuen Gesetz wird die Anerkennung für Erwachsene auf schriftlichen Antrag nach einer obligatorischen 30-tägigen Bedenkzeit möglich sein. Um Missbrauch zu verhindern, dürfen solche Anträge nur einmal im Jahr gestellt werden.
Langer Kampf für Aktivist*innen
Am 1. Februar stimmte das finnische Parlament mit 113 zu 69 Stimmen für eine Änderung dieses Gesetzes, nachdem zuvor heftig über das Gesetz gestritten wurde. Premierministerin Sanna Marin machte die Abstimmung zur Priorität in ihren verbleibenden zwei Monaten im Amt. In Finnland finden Anfang April Parlamentswahlen statt.
Für Matti Pihlajamaa, LGBTI-Rechtsberater von Amnesty International Finnland, ist das neue Gesetz ein großer Erfolg. „Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes hat Finnland einen großen Schritt zum Schutz der Rechte von Transsexuellen und zur Verbesserung ihres Lebens und ihres Rechts auf Selbstbestimmung getan“, sagte Pihlajamaa.
„Die Abstimmung ist das Ergebnis von mehr als einem Jahrzehnt Kampagnen zivilgesellschaftlicher Gruppen und ein Beweis für das Engagement von Aktivisten, die lange und hart – oft trotz giftiger Rhetorik – dafür gekämpft haben, diesen Tag zu erleben.“
Quelle: twitter.com/amnesty
„Obwohl dieses neue Gesetz enorme und positive Auswirkungen haben und eine wichtige Säule für die Nichtdiskriminierung darstellen wird, muss noch mehr getan werden“, fügte Matti Pihlajamaa hinzu. Denn das Gesetz gilt nur für Erwachsene.
„Der Ausschluss von Kindern von der rechtlichen Anerkennung des Geschlechts verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Wir werden die Regierung weiterhin auffordern, die Gesetzgebung entsprechend zu ändern, um sicherzustellen, dass die Rechte der Kinder gefördert werden.“
„Wettrennen" mit Deutschland?
Foto: Fabian Sommer / AFP
GERMANY-POLITICS-GOVERNMENT-PARTIES
Lisa Paus (Grüne)
Das von der Ampel-Koalition geplante Selbstbestimmungsgesetz zur vereinfachten Änderung von amtlichem Geschlechtseintrag und Vornamen von Transsexuellen befindet sich inzwischen ebenfalls auf der Zielgeraden. „Das Gesetz wird kommen, weil diese Koalition den menschenrechtswidrigen Zustand im derzeitigen Transsexuellengesetz abstellen will“, sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) der „Welt am Sonntag“ im Januar. „Diese Menschen sind schon zu lange drangsaliert und diskriminiert worden.“ Die Ampel-Koalition arbeite daran,
„dass es hier nun schnell vorangeht und wir das Selbstbestimmungsgesetz vor der parlamentarischen Sommerpause in 2023 beschließen können.“
Mehr Rechte, gleiche Fristen wie in Finnland
Bedenken, dass vor allem junge Frauen vorschnell ihre Geschlechtsidentität ändern könnten, könne sie „nur schwer nachvollziehen“, sagte Paus. Bei einer Änderung des Geschlechtseintrags und des Vornamens seien die Betroffenen mindestens ein Jahr an diese Entscheidung gebunden – mit allen Konsequenzen.
„Der Name wird geändert, der Personalausweis wird geändert. Das ist ein drastischer Schritt, der auch Konsequenzen im Umfeld hat. Niemand tut dies leichtfertig“, betonte die Ministerin.
Die Heftigkeit der Debatte zeige, „wie schwer sich manche in unserer Gesellschaft noch immer damit tun, zu akzeptieren, dass es Menschen gibt, die sich außerhalb der binären Geschlechterordnung verorten“, so Paus. Trans-, intergeschlechtliche und non-binäre Menschen gebe es schon seit Jahrtausenden. Bisher habe es aber meist strafrechtliche Konsequenzen gegeben, wenn Menschen dies leben wollten. Diese Menschen bedürften eines besonderen Schutzes, betonte die Grünen-Politikerin:
„Trans-, intergeschlechtliche und non-binäre Menschen gesetzlich zu schützen, gebietet das Grundgesetz und das Prinzip der Menschenwürde.“
Quelle: twitter.com/mhstiftung
Aufgrund der – Zitat Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH) – „ für alle trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen, die auf eine niedrigschwellige Möglichkeit warten, ihren Geschlechtseintrag und Vornamen zu ändern", „schmerzhaften" Verzögerung im Gesetzgebungsverfahren in Deutschland, lud die BMH am 8. Februar zur einer spannenden Veranstaltung in Kooperation mit dem Bundesverband Trans*. Vorträge und Diskussion sind nun online verfügbar:
Die BMH fordert bei dem Thema Eile, denn
„gleichzeitig werden in den vergangenen Monaten verstärkt Fehlinformationen mit Blick auf das Selbstbestimmungsgesetz verbreitet. Rechtsextreme, christlich-fundamentalistische sowie antifeministische Kräfte nutzen die Verzögerung, um gegen das Vorhaben zu mobilisieren."
Einem im vergangenen Sommer vorgelegten Eckpunktepapier zufolge sollen Volljährige künftig beim Standesamt die Änderung von Geschlechtseintrag oder Vornamen verlangen können, ohne weitere Nachweise oder Begründungen zu erbringen. Bei Minderjährigen ab 14 müssen die Eltern einverstanden sein – sind sie es nicht, kann das Familiengericht eingeschaltet werden, um den Konflikt zu klären. Vor einer erneuten Änderung soll in allen Fällen eine Sperrfrist von einem Jahr gelten.
Ob Finnland oder Deutschland zuerst die so dringend erwartete Ziellinie zu einem menschenwürdigen staatlichen Umgang mit Trans, Inter und non-binären Menschen überschreiten, wird wohl spätestens im Sommer klar sein. *sah/ck/AFPcha/ma