Über 70 Jahre Grundgesetz, aber Sicherheit und Gleichberechtigung vieler queerer Menschen können immer noch nicht gewährleistet werden. Eine neue Kampagne mit über 100 prominenten Unterstützer*innen, Vereinen und Initiativen will das ändern.
Foto: C. Knuth
LSVD Artikel 3
50.000 Unterschriften zur Ergänzung des Artikel 3 des Grundgesetzes überreichte der LSVD am 30. März 2011 an die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Seit 2009 (wir berichteten) gibt es immer wieder aktivistische Vorstöße den Artikel 3 Absatz 3 im Grundgesetz, um sexuelle und geschlechtliche Identität zu erweitern. Dieser wurde nach den Verbrechen Nazi-Deutschlands in der Verfassung der BRD so verfasst, um möglichst alle Verfolgten der Nazis in der Zukunft zu schützen. Der bisherige Antidiskriminierungsparagraf lautet folgendermaßen:
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
Erste Erfolge einer Grundrechtsreform konnten auf der Landesebene verzeichnet werden, da einige Bundesländer ihre Landesverfassung angepasst haben, um queere Menschen explizit zu nennen und somit unter rechtlichen Schutz stellen zu können.
2019 entwarfen die Oppositionsparteien Bündnis 90/ Die Grünen, Die Linke und FDP einen Gesetzesentwurf, um Artikel 3 Absatz 3 mit den Zusätzen sexuelle und geschlechtliche Identität zu ergänzen (wir berichteten). Das Grundgesetz kann jedoch nur durch eine 2/3-Mehrheit geändert werden, was bedeutet, dass ohne die Zustimmung der CDU/CSU kein Erfolg möglich ist. Der Gesetzentwurf wurde durch die CDU/CSU und die SPD, die nicht gegen ihren Koalitionspartner stimmen wollte, in die Ausschüsse verwiesen und verstaubt dort seit dem.
Foto: S. Ahlefeld
Doris Achelwilm (DIE LINKE), Jens Brandenburg (FDP), Ulle Schauws (Grüne) und LSVD-Bundesvorständin Henny Engels am 22. Mai 2019 im Bundestag
Bemerkenswert: Erstmals wurde im Zuge der Ausschussanhörung von der CDU/CSU-Fraktion ein Berater vom Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) eingeladen. Einzelne Stimmen der konservativen Partei, die bis dahin geschlossen gegen eine Ergänzung auftrat, sprachen sich – wie auch alle geladenen Sachverständigen – für die Grundgesetzänderung aus.
Breites Bündnis will aktuelle Debatte um den Begriff Rasse nutzen
Foto: #grundgesetzfüralle
Im Zuge der Diskussion um eine Ersetzung des Begriffes Rasse im Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes, appelliert die Kampagne Grundgesetz für Alle seit gestern den Artikel für queere Menschen noch in der laufenden Legislaturperiode anzupassen. Die sexuelle und geschlechtliche Identität, die für queere Menschen Grund für institutionelle und zwischenmenschliche Diskriminierung sei, müsse in dem Absatz explizit genannt werden. Die Justiz könne nur Rechte schützen, die im Gesetzestext stehen. Die Rechte, die im Grundgesetz beschrieben werden, sind das Fundament für alle anderen Gesetze. Verstoßen Gesetze gegen das Grundgesetz, werden sie vom Bundesverfassungsgericht ungültig erklärt. Dazu gleich mehr.
Änderungen des Grundgesetzes sind nur mit einer 2/3-Mehrheit im Bundestag möglich. Die LGBTIQ*-politischen Abgeordneten Doris Achelwilm (Die Linke), Ulle Schauws (Bündnis 90/Die Grünen) und Jens Brandenburg (FDP), die auch den Gesetzesentwurf zur Grundrechtsreform 2019 verfasst haben, äußerten sich folgendermaßen zu der Kampagne:
„Wir freuen uns über den starken Rückenwind aus der Community! Das Grundgesetz muss queere Menschen dauerhaft vor Diskriminierung schützen. Eine Ergänzung des Artikel 3 um „sexuelle Identität“ und die Klarstellung bezüglich inter- und transgeschlechtlicher Menschen sind überfällig. Unser von allen Sachverständigen unterstützter Gesetzentwurf liegt längst vor. {... } Wir laden die Koalitionsfraktionen ein, noch in dieser Legislaturperiode eine gemeinsame Lösung zu finden."
Über 100 prominente Unterzeichner*ìnnen und Organisationen
Foto: NDR/Wolfgang Borrs
Es ist höchste Zeit, sowohl den #Rassebegriff aus dem #Art3GG zu streichen, als auch #queere Menschen endlich durch das #Grundgesetz vor #Diskriminierung zu schützen. Ich habe schon unterschrieben. Und ihr? #GrundgesetzfürAlle
Die Kampagne Grundgesetz für Alle vereint hinter sich über 60 queere Organisationen wie den LSVD, BiNe - Bisexuelles Netzwerk und die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität, sowie einige berühmte Einzelpersonen. Darunter fallen Anne Will (Moderatorin), Udo Lindenberg (Sänger), Carolin Emcke (Autorin und Publizistin), Linus Giese (Autor und Buchhändler), Raul Krauthausen (Aktivist) und Maïmouna Obot (Juristin und Menschenrechtlerin). Neben der Unterstützung von Organisationen und Berühmtheiten setzt die Kampagne auf den lauten Support der Gesellschaft. Aus diesem Grund gibt es zu der Kampagne auch eine eigene Petition und Hashtag-Aktion.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unterstützt die Kampagne, genauso wie die Bundesstiftung Magnus-Hirschfeld
Hintergrund: Warum wird die Ergänzung des Artikel 3 gefordert?
Ein im Grundgesetz verankerter Schutz von queeren Menschen wäre in Deutschland von zentraler Bedeutung, da Queerfeindlichkeit eine bis heute historische Kontinuität darstellt. Vier Beispiele dazu:
- Ein Beispiel ist der Paragraf 175, der von Preußen 1851 eingeführt und vom Deutschen Kaiserreich 1872 übernommen wurde. Der Paragraph hatte in seiner über 100 Jahre langen Verwendung unterschiedliche Formulierungen, aber in allen Versionen waren sexuelle Beziehungen zwischen queeren Männern strafbar (wir berichteten). In der BRD wurde der Paragraf erst nach der Wiedervereinigung 1994 ersatzlos gestrichen, in der DDR fünf Jahre vorher, im Jahr 1989.
Foto: Friedrich-Naumann-Stiftung
175
Schon in den goldenen 1920ern wurde eine Entkriminalisierung von Homosexualität gefordert. Dann kamen die Nazis. Unser Dossier zum Unrechtsparagrafen 175 findest du HIER
- Den Höhepunkt der staatlichen Gräueltaten erlitten Queers im Nationalsozialismus. Zehntausende Männer* wurden unter dem Rosa Winkel, der für Homosexualität stand, in Konzentrations- und Vernichtungslager eingesperrt und unzählige ermordet. Queere, zum Beispiel lesbische Frauen, wurden unter dem Schwarzen Winkel, der für Asozialität stand, gequält. Nach dem Krieg sind die queeren Opfer mitnichten befreit gewesen. Der Paragraf 175 galt unverändert weiter und so kam es sogar zu Fällen, in denen schwule Männer für ihre Zeit in einem Konzentrationslager Verpflegungskosten an die BRD nachzahlen mussten.
- Das dritte Beispiel ist das sogenannte Transsexuellengesetz, welches 1980 verabschiedet wurde. Es regelt die juristische und medizinische Transition von trans* Menschen regelt. Darunter fallen Dinge, wie die Änderung des Vornamens auf offiziellen Papieren oder geschlechtsaffirmierende („angleichende“) medizinische Eingriffe; leider auch ein Sterilisationszwang. Um juristisch als das Geschlecht anerkannt zu werden, dass mensch nun mal ist, musste die Familienplanung geopfert werden. Von den Folgen dieser Regelung, die das Bundesverfassungsgericht 2011 für grundrechtswidrig erklärte, sind ca. 10.000 Menschen betroffen. Bis heute gibt es dafür weder eine Entschuldigung der Bundesregierung, noch eine Wiedergutmachung.
Transgender
Die Flagge der Trans* Community
- Als letztes Beispiel bis heute andauernder Ungleichbehandlung und Diskriminierung von LGBTIQ* sind bis heute nicht-konsensuelle und medizinisch nicht notwendige Operationen und Hormonersatztherapien an intergeschlechtlichen Kinder nicht verboten. Genaue Opferzahlen gibt es dazu nicht, .eine Studie zählte zwischen den Jahren 2005 und 2016 jährlich ca. 1.900 Operationen. Es gibt aktuell kein Verbot solcher Eingriffe, jedoch wurde im letzten Jahr ein Gesetzesentwurf von CDU/CSU und SPD in den Bundestag gebracht, der gute Chancen hat, verabschiedet zu werden (wir berichteten).
Eine seit dem Nationalsozialismus bestehende Gefahr für queere Menschen erlebt mit dem deutlichen Rechtsruck in der Gesellschaft wieder Auftrieb. Er zeigt sich beispielsweise in Form der AfD, die seit 2014 in deutschen Parlamenten sitzt (wir berichteten). Er untermauert die Notwendigkeit, aktiv gegen Queerfeindlichkeit vorzugehen und für Respekt einzutreten. Eine Verankerung von Rechten für LGBTIQ* im Grundgesetz würde deshalb für heute und morgen den Schutz von queeren Menschen sichern. Das erhoffen sich zumindest die Initiator*innen und Zeichner*innen der Kampagne #GrundgesetzFürAlle.
Fazit (Meinung)
Es gibt kein automatische Emanzipation auf die wie vertrauen könnten. Deutschland ist historisch und aktuell oft kein sicheres Land für queere Menschen und muss ihnen sowohl mehr Schutz bieten als auch weitere Schritte unternehmen, um sie zu gleichwertigen Bürger*innen zu machen. Eine Verankerung von sexueller und geschlechtlicher Identität im Grundgesetz wäre ein sehr wichtiger Schritt, um queerefeindliche Diskriminierungen auf allen Ebenen illegal und strafbar zu machen. Die seit gestern entstandenen Solidarität und Unterstützung in der Mehrheitsgesellschaft sollte den Koalitionären auf der Unionsseite einen letzten Ruck gegeben, diese 150-jährige Verfolgungsgeschichte ein für alle mal zu beenden.
*Victoria Forkel und Christian Knuth