Am 6. Mai 1933 zerstörten nationalsozialistische Studierende das Institut für Sexualwissenschaft von Dr. Magnus Hirschfeld nahe dem Haus der Kulturen der Welt im Berliner Tiergarten (ehedem Ecke „In den Zelten“ / Beethovenstraße). Vier Tage später wurden Teile der geraubten Bestände des Instituts in den Flammen der Bücherverbrennung auf dem Opernplatz (heute Bebelplatz) vernichtet. Über 10.000 der insgesamt an diesem Tag dort verbrannten 25.000 Werke, stammten aus dem Institut. Die Bundesstiftung Magnus-Hirschfeld (BMH) gedenkt diesem Auftakt der Verfolgung von Wissenschaft und Minderheiten am 10. Mai in einer feierlichen Gedenkveranstaltung.
Foto: BMH
Denkmal Institut für Sexualwissenschaft im Berliner Tiergarten, 5. Mai 2023
BMH-Vorstand Helmut Metzner, der am 5. Mai Blumen am Denkmal im Tiergarten niederlegte, nimmt in einer Pressemitteilung Bezug auf gegenwärtiges Wirken der Politik und ruft zur Erinnerung auf:
„Ich freue mich, dass nun auch der Senat von Berlin das Andenken an Dr. Magnus Hirschfeld, einen der größten Vorkämpfer der ersten queeren Emanzipationsbewegung in Europa, künftig nicht nur weiter unterstützen, sondern noch verstärken möchte.
Jetzt am Mittwoch, 10. Mai 2023 um 19Uhr, wird die BMH an Hirschfeld und sein Erbe erinnern. Wir sind dankbar, dass schon jetzt weit mehr als 200 angemeldete Gäst_innen, darunter Vertreter der Bundes- und Landespolitik sowie auch die eigens aus Australien angereisten Nachfahren Hirschfelds, dieses Gedenken mit uns teilen werden.“
In der Mitteilung konkretisiert die BMH die historische Dimension, die die barbarische Bibliotheksschändung markierte. Sie war demnach nicht nur Vorbote weiterer Verbrechen des NS-Regimes gegen die Menschlichkeit, gegen Kultur und Wissenschaft. 1933 begann, was später in den mörderischen Vernichtungskrieg gegen Europa und im Massenmord insbesondere an Menschen jüdischen Glaubens, Sinti und Roma und auch Menschen, die nicht-heterosexueller oder nicht-cis- geschlechtlicher Identität waren, mündete.
Von Paarberatung über Homosexuellenrechte bis Genderforschung
Das Institut für Sexualwissenschaft, das 1919 von Magnus Hirschfeld gegründet wurde, war eine der bedeutendsten Institutionen der Weimarer Republik, die den liberalen Geist dieser Zeit widerspiegelte. Es war nicht nur eine Forschungs- und Lehrstätte, die sich mit allen Aspekten der menschlichen Sexualität befasste, sondern auch eine Heil- und Zufluchtsstätte für Menschen, die von der heterosexuellen Norm abwichen. Das Institut bot ihnen vielfältige Möglichkeiten der Beratung und Diagnostik, des Austausches und der Fortbildung an. Außerdem war das Institut eine wichtige Anlaufstelle für Ehe- und Schwangerenberatung, Empfängnisverhütung, Abtreibung und die Wirksamkeit von Potenzmitteln.
Das Institut für Sexualwissenschaft war somit die weltweit erste und für lange Zeit einzige Einrichtung, die das Sexuelle als einen wesentlichen Teil der menschlichen Existenz ernst nahm und sich dafür einsetzte, dass es wissenschaftlich erforscht und gesellschaftlich anerkannt wurde. Insbesondere Magnus Hirschfeld, der Gründer des Instituts, engagierte sich politisch und juristisch für die Abschaffung des Paragraphen 175 des Reichsstrafgesetzbuches, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Er wurde dabei von Institutsmitarbeitern oder dem Institut angeschlossenen Einrichtungen unterstützt.
Das Institut für Sexualwissenschaft kann als eine Vorläuferin der heutigen Gender Studies angesehen werden. So befasste es sich auch mit den Geschlechterverhältnissen in den verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten als interdisziplinäres Fachgebiet. Als vielleicht bekanntestes Beispiel kann die von Hollywood als „The Danish Girl“ verfilmte Lebensgeschichte der dänischen Malerin Lili Elbe genannt werden.
Die modernen Gender Studies haben sich aus den feministischen Ansätzen der Frauenbewegung entwickelt und untersuchen die Konstruktion, Bedeutung und Auswirkung des sozialen Geschlechts (gender) im Unterschied zum biologischen Geschlecht (sex). Sie hinterfragen die Definitionen und Festschreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit im Alltag wie in den Wissenschaften und analysieren die Fragen nach Hierarchie, Differenz, Rollen und Stereotypen von, zwischen und über Geschlechter. Auch für diesen Zweig der Gender Studies gab es Wurzeln im Institut für Sexualwissenschaften. So wird die Feministin Helene Stöcker mit der Gründung des Institutes und den zahlreichen oben genannten Beratungsangeboten in Verbindung gebracht. Ihr Bund für Mutterschutz und Sexualreform hatte seine Büros dort. Gender Studies sind somit eine Weiterführung und Erweiterung der Forschungs- und Bildungsarbeit, die das Institut für Sexualwissenschaft begonnen hat. Auch wenn dieser Umstand durch die fast vollständige Zerstörung des Instituts und seiner Bestände erst langsam ins kollektive Bewusstsein zurückkehrt.
Folgerichtig schließt BMH-Vorstand Helmut Metzner in der Pressemitteilung zum Gedenken so:
„Die Tage zwischen dem 6., 10. und 14. Mai stehen im Zeichen des Gedenkens an die NS-Verbrechen, die Vernichtung queerer Infrastruktur und das Ende der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, sowie millionenfache Grundrechtsverletzungen, die uns auffordern:
Wir dürfen nicht zulassen, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Nie wieder!"
Veranstaltungsinfo
Programm
- Wissenschaftlicher Vortrag von Dr. Jens Dobler
- Diskussionsrunden zur Bedrohung queerer Kultur damals und heute
- Lesungen aus queeren Büchern unterschiedlicher Epochen
- Grußwort von Sven Lehmann, Queerbeauftragter der Bundesregierung
➡️ 10.5. Ausgelöscht. Verloren. Wiederentdeckt. 90 Jahre Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaft, Staatsbibliothek zu Berlin, Unter den Linden 8, Berlin, 19 Uhr, Veranstaltungsseite der BMH