2008 überraschte der hinnerk mit dem Coverfoto des damals regierenden Ersten Bürgermeisters Ole von Beust. Obwohl das Outing schon fünf Jahre her war, war offenes Einstehen für Gleichstellung in der CDU immer noch ein schwieriges Thema. Und so formulierte Chefredakteur Stefan Mielchen seinen Titel „Das Private ist politisch“ und stellte die schwulen Kandidaten zur Bürgerschaftswahl vor. Das ist zehn Jahre her und seitdem ist viel passiert. hinnerk traf sich mit dem Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Peter Tschentscher, in dessen Amtszimmer im Rathaus und sprach mit ihm über Schill, schrill und Liberalität.
Foto: Roman Holst / instagram.com/roman_holst
Herr Tschentscher, erinnern Sie sich noch an das Coming-out von Ole von Beust?
Das war doch damals im Zusammenhang mit Herrn Schill.
Genau genommen hat sein Vater diesen Job über ein Interview in der Welt übernommen.
Ich weiß noch, dass das nur eine aus einer ganzen Ansammlung von Unverfrorenheiten war, die sich Herr Schill erlaubt hat.
Warum war es für Sie damals schon unbedeutend?
Die meisten wussten es vorher schon. Und es gab mit Klaus Wowereit in Berlin bereits ein Vorbild. Ich habe nur noch den groben politischen Ablauf in Erinnerung. Erst war man erschrocken, dass es diese Koalition überhaupt gab. Dann kam es noch schlimmer als befürchtet. Und am Ende gab es Neuwahlen und keinen Schill mehr.
Klischees und Vorurteile
Ganz ehrlich: Hatten Sie in Ihrem Leben mal Vorurteile gegen Lesben und Schwule?
Ich kann mich daran nicht erinnern. Ich bin jetzt 52. In meiner Schulzeit gab es andere Themen, die uns beschäftigt haben. Es ging um den Kalten Krieg, die Hochrüstung mit Mittelstreckenraketen Pershing 2 und SS-20 auf deutschem Boden, den Ausbau von Atomkraftwerken. Dagegen haben viele demonstriert – ich auch. Wir hatten Bedenken, dass sich Europa selbst in die Luft sprengt und wir nicht alt werden. Weil das so ein bestimmendes Thema war, ist alles andere eher in den Hintergrund gerückt.
Inzwischen sind wir in der Gesellschaft wesentlich weiter, was die Fortschritte queerer Rechte angeht. Die rechtliche Gleichstellung ist mit der „Ehe für alle“ fast erreicht. Trotzdem halten sich Klischees und Vorurteile – zum Beispiel das des „schrillen Schwulen“ in Frauenkleidern. Dragqueens. Oder der Bereich Fußball: Kein aktiver Spieler steht dazu, homosexuell zu sein, weil es eine „männliche“ Sportart ist und man sie Schwulen nicht zutraut.
Das ist bei uns in Hamburg anders. Wir sind eine tolerante Stadt und kennen das Leben in seiner ganzen Vielfalt. Niemand würde behaupten, Thomas Hitzlsperger sei ein schwacher Fußballspieler gewesen. Wenn es ein Klischee gibt, dann zerplatzt es in dem Moment, wo die Realität zeigt, wie es wirklich ist. Je mehr konkrete Beispiele es gibt, umso besser ist es für die Toleranz und Akzeptanz der unterschiedlichen Formen des Lebens und Zusammenlebens.
„... das Bedürfnis haben, ... Privatsphäre zu schützen.“
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Niemand sollte sich verstecken müssen
Trotzdem hat sich seit Hitzlsperger kein Fußballer geoutet, obwohl es statistisch selbst in der Mannschaft, die gerade für uns in Russland spielte, mindestens ein oder zwei Schwule geben könnte.
Das mag ja sein – und niemand sollte gezwungen sein, sich zu verstecken. Aber vermutlich spielt auch eine Rolle, dass Fußballspieler wie viele Politiker, Journalisten und Künstler im öffentlichen Leben stehen und oft das Bedürfnis haben, ihre Privatsphäre zu schützen. Vielleicht hat sich ein Fußballspieler gerade von seiner Freundin getrennt und ein anderer hat Streit mit der Familie?
Das erfährt man schon ziemlich häufig.
Ja, aber ist das gut? Auch wenn das oft vorkommt und man eigentlich nichts zu verbergen hat, möchte man darüber nicht alles in der Zeitung lesen.
Liberalität als hanseatische Tugend
Hamburg ist oftmals Vorreiter gewesen bei gesellschaftlichen Fortschritten. Die Hamburger Ehe war 1999 der Vorläufer der eingetragenen Partnerschaft zum Beispiel. Wie erklären Sie sich das?
Gesellschaftliche Entwicklungen zeigen sich in den großen Metropolen der Welt früher als woanders. Wir sind eine internationale Stadt – wir sind gewohnt, mit einer großen Bandbreite an Kulturen, Religionen und Lebensweisen umzugehen. In einer liberalen und weltoffenen Hansestadt sind die Menschen vielleicht auch selbstbewusster, ihre Rechte einzufordern.
Waren Sie schon mal auf einer gleichgeschlechtlichen Hochzeit?
Ja.
Werden Sie selbst beim CSD in Hamburg dabei sein?
Ja. Ich bin von Hamburg Pride und SPDqueer eingeladen worden. Erst passte es terminlich nicht, aber wir haben das jetzt organisiert.
Haben Sie schon mal an einem CSD teilgenommen?
Nein. Bisher noch nicht. Aber ich werde gemeinsam mit der SPD-Landesvorsitzenden Melanie Leonhard teilnehmen, die schon öfter bei der CSD-Parade dabei war und mir davon erzählt hat. Vorher soll es noch ein Frühstück mit dem Vorstand von Hamburg Pride geben. Ich bin gespannt.
„Ich bin gespannt.“
Foto: Roman Holst / instagram.com/roman_holst
Tatsächlich war Peter Tschentscher beim Hamburg Pride 2018 dann auch nicht nur dabei, sondern mittendrin im Geschehen.
Wie fanden Sie die Tatsache, dass Bundeskanzlerin Merkel die Abstimmung zur „Ehe für alle“ zwar freigegeben hat, dann aber dagegen gestimmt hat?
Ich kann mir die Gründe für ihr Verhalten vorstellen, halte ihre Entscheidung aber nicht für richtig.
Können Sie Menschen verstehen, die inzwischen zu LGBTIQ*-Aktivisten sagen, sie hätten alles erreicht und sollten mal still sein? Das geht bis in die Mitte der Gesellschaft. Bis in die „eigenen Reihen“ der queeren Communitys.
Wir sind wirklich gut vorangekommen: im Berufsleben, in den Kirchen, in der gesellschaftlichen Akzeptanz. Aber wenn es noch Dinge zu verbessern gibt, hat jeder das Recht, sich dafür einzusetzen. Das ist das Wesen einer freiheitlichen Gesellschaft und der Demokratie.
„Im Grunde sind wir aber heute alle froh, dass wir nicht mehr im Kaiserreich leben.“
Migration und AfD
Es gibt zwei Themenblöcke, die uns queere Menschen sehr betreffen, die eigentlich sehr konträr sind, aber irgendwie auch zusammengehören: Einmal die Sorge einiger, dass Menschen aus bestimmten Kulturkreisen unsere Werte nur mühsam annehmen, zum anderen die, die selbst Probleme mit unserer weltoffenen Gesellschaft haben und rechtspopulistische Bewegungen wie damals Schill, heute die AfD unterstützen. Wie gehen Sie mit diesen Herausforderungen um?
Wir verlangen, dass alle akzeptieren, dass wir eine offene und demokratische Gesellschaft sind, in der alle Menschen dieselben Rechte und Pflichten haben. Ich finde, jeder sollte sein Leben so gestalten, wie es seiner Persönlichkeit, seinen Überzeugungen und seiner Religion entspricht. Aber das muss er auch für alle anderen gelten lassen. Die Regeln einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft gelten für alle gleichermaßen. Bei einer Einbürgerung verlangen wir in Hamburg deshalb ein Bekenntnis zu den Werten unserer Demokratie und unserem Rechtsstaat.
Foto: gemeinfrei / CC0
Plenarsaal im Hamburger Rathaus – hier tagt die Bürgerschaft, die den Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg wählt.
Und für die, die hier geboren sind und zum Beispiel aktuell im Bundestag ankündigen, die Öffnung der Ehe wieder rückabwickeln zu wollen?
Denen würde ich selbstbewusst entgegentreten. Rückständige Haltungen beruhen oft auf eigener Unsicherheit und Angst vor der Zukunft. Dem kann man am besten mit Optimismus und einem Hinweis auf die positiven Wirkungen des gesellschaftlichen Wandels begegnen.
Wie meinen Sie das?
Viele Errungenschaften, die uns heute selbstverständlich erscheinen, mussten in unserer Geschichte gegen rückständiges Denken durchgesetzt werden: politische Rechte, gleiche Bildungschancen, Arbeitnehmerrechte und vieles mehr. Im Grunde sind wir aber heute alle froh, dass wir nicht mehr im Kaiserreich leben, in dem viele Benachteiligungen und Diskriminierungen an der Tagesordnung waren. Darauf müssen wir hinweisen, denn es entspricht der Lebenserfahrung vieler Menschen, dass ihnen diese Errungenschaften auch zugutekommen. Das ist der Kern einer positiven Botschaft: Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle ihr Glück suchen und finden können.
Vielen Dank für das Interview, Herr Bürgermeister.
*Interview: Alexander Nebe/Christian Knuth