Es ist erstaunlich still im politisch bewegten Teil der Szene. Dabei sollten gerade hier die Alarmglocken läuten. Das, was Bundesgesundheitsminister Jens Spahn da in sein zweites „Volksschutzgesetz“ einbauen will, erinnert an totalitäre Systeme. Der Kommentar mit freundlicher Unterstützung von DIE LINKE.queer.
Zunächst ein Mea Culpa für die Verkürzung von Bevölkerungsschutzgesetz auf das völkische Volksgesundheitsgesetz. Die Zuspitzung ist aber notwendig, denn offensichtlich hat es sich ein großer Teil des politisch interessierten Souveräns in der devot-untertänigen Empfängerposition gemütlich gemacht und lechzt nach immer neuen Zumutungen aus dem vor Eifer und Tatendrang nur so strotzenden Corona-Abwehr-Hauptquartier in der Berliner Friedrichstraße. Ich möchte auch vorweg noch jeden Versuch von mir weisen, mich unter die Vertreter*innen des anderen Extrems einzuschubladen. Ich habe zurzeit keinen Grund, Kontaktbeschränkungen als sinnvolle Maßnahme anzuzweifeln.
Maßnahmen waren und sind richtig
Grundsätzlich sind viele der bereits erfolgten und noch geplanten Neuerungen im Gesundheitssystem, aber auch bei der Kurzarbeit und den Hartz-4-Anträgen, Schritte in eine, viel zu lange und nur auf Druck der CDU/CSU aufgeschobenen, Neuausrichtung des Sozialstaates. Ich halte auch – ganz wie Kanzlerin Merkel und SPD-Epidemiologe Karl Lauterbach (Interview taz) – die Öffnungsorgien der Landesfürsten (auf Gendern verzichte ich hier absichtlich) für fatal und die FDP versteigt sich im Großen und Ganzen eh wieder nur in, altbekannte aber eben bewiesen nicht altbewährte, Marktlösungen oder gar sozialdarwinistische Auswüchse.
Die Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN), Martina Wenker, hat im Ärzteblatt so auch davor gewarnt, den gefährlichen Kurs der Einteilung in Risikogruppen weiter zu beschreiten. Es ist ein Irrweg, rund ein Viertel bis ein Drittel der Deutschen als problematisch zu markieren, Separationslösungen auch nur zu denken, und sich so schnurgerade in die Tradition des unwerten Lebens zu begeben.
„Jeder einzelne Mensch hat das Recht, selbst zu entscheiden, wie er leben und sterben möchte – auch in Zeiten der Coronapandemie."
Martina Wenker, Präsidentin ÄKN
Im Grundgesetz steht nicht, dass das Leben des Menschen, sondern seine Würde unantastbar ist. Aber das ist in der gerade aufgeregten Herde wohl zu metaphorisch, um angemessen debattiert zu werden. Sonst landet man schnell in Tübingen auf/an einer Palme.
Zurück zum Thema.
Immunitätsausweis, Infektions-Persilschein, App-Solution
Foto: Bundesregierung/Kugler
Prof. Ulrich Kelber, Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
Laut dem vorliegenden Entwurf sollen Arbeitgeber künftig Kenntnis über alle übertragbaren Krankheiten ihrer Angestellten erhalten dürfen. Bislang galt dieses Recht nur für Krankheiten, zu denen es eine Schutzimpfungsempfehlung der zuständigen Impfkommission gab. Die Grüne Gesundheitspolitikerin Kordula Schulz-Asche nannte die Pläne deshalb immerhin „fragwürdig“, auch der Bundesdatenschutzbeauftragte sagte laut Bericht der Süddeutschen:
„Bei jeder Form von Immunitätsnachweisen handelt es sich um Gesundheitsdaten, die besonders zu schützen sind. Auf keinen Fall dürfen solche Daten missbraucht werden oder zu Diskriminierung führen.“
Ulrich Kelber (SPD)
Ach was! Weil das ja bisher auch so gut funktioniert hat? Die Bundessprecher*innen von DIE LINKE.queer, Daniel Bache, Katharina Jahn und Frank Laubenburg waren mit die ersten, die auf die gefährliche Allgemeingültigkeit des geplanten Updates aus dem Hause Spahn aufmerksam machten und nicht wie Grüne und SPD eher allgemeine Absichtserklärungen formulierten, sondern die Gefahr für die Demokratie und die Würde des Einzelnen klar benennen:
„Die geplante Einführung einer allgemeinen „Immunitätsdokumentation“ im Infektionsschutzgesetz ist nicht nur völlig unverhältnismäßig und unwissenschaftlich, sie verschärft vielmehr die Möglichkeiten der Diskriminierung und Ausgrenzung. Sie ist brandgefährlich, gerade für ohnehin marginalisierte gesellschaftliche Gruppen, und im vorliegenden „Formulierungsvorschlag“ weder auf einzelne übertragbare Erkrankungen begrenzt noch zeitlich befristet. Vielmehr wird die aktuelle Pandemie zu einem massiven Angriff auf den Schutz gesundheitsbezogener persönlicher Daten genutzt.
Allein die mit den Plänen verbundene Weitergabe gesundheitsbezogen Daten z. B. an Arbeitgeber ist ein Einfallstor dafür, dass entsprechende Gesundheitsdaten demnächst auch in weiteren Bereichen, so auch bei sexuell übertragbaren Krankheiten, weitergegeben werden und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung weiter eingeschränkt wird.
Die Bundesrepublik Deutschland hat es in weit über 30 Jahren nicht vermocht, Menschen mit HIV und Aids vor Diskriminierung, Datenmissbrauch und Ausgrenzung zu schützen. Nicht nur mit der medizinisch vollkommen unsinnigen Speicherung der Daten HIV-Infizierter in polizeilichen Datenbanken wirkt sie vielmehr aktiv an Diskriminierung mit. Einen Blankoscheck für Immunitätsnachweise darf es daher nicht geben.“
Foto: Dimitri Houtteman / CC0
Die Demokratie ist kein Versuchskaninchen. (Kaninchen, anderes Thema, auch nicht)
Da wir zurzeit wie bekannt – durch Anwendung des Infektions-, so wie des ersten Bevölkerungsschutzgesetzes – an der Ausübung unserer Demonstrationsrechtes gehindert sind, sollte sich jeder Demokrat ernsthaft auf die Hinterbeine stellen und politische Schnellschüsse gegen die Grundfesten unserer Demokratie auf allen verbliebenen Kanälen formulieren und veröffentlichen.
Ein „wir haben ja nichts gewusst“ werden uns unserer Nachfolgegenerationen sicher nicht noch einmal abkaufen, wenn einst eine extremistische Partei wie die AfD, die aktuell zu verhandelnden Maßnahmen mit hochgestrecktem rechten Kussarm dankend winkend, anwendet. Jens Spahn hat immerhin inzwischen den Ethikrat der Bundesrepublik angerufen und eine Bewertung seiner Pläne erbeten. Recht so!
#Update • Entwicklungen und Statements
Die Front der Kritiker wird breiter
Sebastian Walter ist queerpolitischer Sprecher im Berliner Abgeordentenhaus
Grüne Immunitätsausweis
Bündnis90/Grüne haben im Länderrat eine klare Ablehnung des Immunitätsausweises beschlossen. (Quelle)