Ein unverwechselbarer Bestandteil schwuler Identität ist die freie Wahl der Sexualrolle. Wir sind beidseitig benutzbar. Welcher Hetero hat schon die Wahl zwischen aktiv oder passiv? Tatsächlich scheint es für viele jedoch schon im Vorfeld wichtig zu sein, welche Rolle gespielt werden soll. Ist die biologisch freie Wahl psychologisch möglicherweise bereits getroffen?
Die Psychologie geht davon aus, dass allen Homosexuellen eine zentrale Kindheitserfahrung gleichermaßen haben. Ihre primäre Wahrnehmung gegenüber anderen Jungen besteht demnach darin, sich unmännlicher zu fühlen, was nicht automatisch gleichzusetzen ist mit einer femininen Selbsteinschätzung. Richard C. Friedman zählt folgende typischen Kindheitserfahrungen späterer Homosexueller auf:
1.Vermeidung spielerischer Aggressivität wie Raufen
2.Geringerer Status unter gleichaltrigen Jungen
3.Keine dauerhaften positiven Beziehungen zu anderen Jungen
4.Keine kompensierenden positiven Beziehungen zu älteren männlicher Autoritätsfiguren
SELBSTEINSCHÄTZUNGEN
Kontaktanzeigen in Magazinen und vor allem im Internet sind voll von Selbstbeschreibungen der eigenen Präferenzen. Sie liefern faszinierende Erkenntnisse über die Bewertung der Rollenbilder, die sich kaum von denen unterscheiden, die von machodominierten Kulturen bekannt sind. Ich mag Bauarbeitertypen und Kerle, die wissen, was sie wollen ... ansonsten könnte ich ja auch mit einer Frau in die Kiste, heißt es zum Beispiel. Der Aktive ist nicht nur der, der einlocht. Er ist der männliche, dominante Kerl, der sich beispielsweise als straight acting bezeichnet. Der Passive andererseits ist nicht nur der Gefickte, er ist auch der Unterworfene oder Genommene in mehr als nur einem körperlichen Sinn. Diese nehmen das sehr aufmerksam wahr, wie eine Internetanzeige zum Ausdruck bringt:
Just because I like to get fucked doesnt mean Im a little bottomsissyfag without a clue (auf Deutsch etwa: Nur weil ich mich gerne ficken lasse, heißt das nicht, dass ich ein passives Schwuchteldummchen wäre).
Diese Selbstauskünfte zeigen ein gewisses Muster bei der Übernahme einer Rolle. Der vermeintlich Maskulinere übernimmt die aktive, der vermeintlich Femininere die passive Rolle. Aber Kerl fickt häufig nicht nur Tunte, Alt fickt auch Jung, der Behaarte den Unbehaarten und Dunkel gerne Blond. Zumindest im Vorspieltalk der Chats und in Pornofilmen.
All diese Einordnungen lassen den Verdacht aufkommen, dass das Rollenspiel der Heteros (männlich = aktiv, weiblich = passiv) auch in homosexuellen Zusammenhängen eine Rolle spielt. Dabei muss die Selbsteinschätzung nicht zwingend korrekt sein. Ein eigentlich aktiv orientierter Freund gestand einmal ein Bestrafungsritual, welches er anwendet, wenn er einen schlechten Tag hatte, das heißt, wenn er mit sich unzufrieden war. In solchen Nächten suchte er sich an den übelsten Orten der Stadt gezielt einen älteren Mann, den er im Prinzip schrecklich fand und ihn äußerlich eher an seinen Vater erinnerte. Sich gezielt unter diesen Mann zu legen, empfand er als befriedigende Bestrafung für sein Tagesversagen.
Darin scheint sich die Erfahrung manch einer Prostituierten widerzuspiegeln, dass die Bedürfnisse des Tages häufig umgekehrt zu denen der Nacht werden, was gerade viele Manager in die SM-Studios führt. Dies ist ebenso einer Tagesverfassung geschuldet wie der Wunsch, an manchen Tagen härter angefasst zu werden als an anderen erstaunlicherweise gerade dann, wenn der Druck groß war. Ebenso scheint das Rollenspiel von dem Typus des anderen beeinflusst zu werden. Sonst aktive Männer gehen auch gerne mal in die Knie, wenn es der richtige Kerl ist, also jemand mit einer noch höheren männlichen Ausstrahlung oder Ausstattung. Die Größe des Geschlechtsorgans scheint ebenfalls dazu geeignet zu sein, Dominanz ausüben zu können.
FESTLEGUNGEN
Die Selbstbewertung Ich bin nicht maskulin entspringt größtenteils einer Einschätzung der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Jungen und anderen Männern, schreibt Friedman. Socarides geht davon aus, dass die kindliche Identifikation mit der Mutter und die Abwesenheit eines starken Vaters zu einem Mangel an Männlichkeitsgefühl beitragen. Dies führt später dazu, jenen Mangel durch homosexuelle Kontakte zu anderen Männern zu kompensieren.
Wenn diese Erfahrung für eine Mehrheit von Schwulen allgemein gültig sein soll, wie ist es dann möglich, dass aus den gleichen Erfahrungen unterschiedliche Rollenverhalten des Aktiven oder Passiven entspringen? Dass es Präferenzen gibt, auch wenn beide Rollen technisch durchführbar sind, scheint mit zunehmendem Alter immer deutlicher.
Der Schwule nimmt, laut Socarides, im Sex, through incorporation of the partner or parts of his body (durch die Aufnahme des Partners resp. durch die Aufnahme von Körperteilen des Partners) eine Identifikation mit der Maskulinität des Partners vor. In Rothenburg führte das bekanntlich sogar so weit, dass das Genital des anderen verspeist wurde. Gerade Letzteres unterstreicht die Beobachtung, dass homosexuelle Umgangsformen ein Maß an Rücksichtslosigkeit, Gefühlskälte und Aggression aufweisen, sodass Socarides folgert: aggression played an integral role in homosexual relationship (Aggression spielte ein wesentliche Rolle in homosexuellen Beziehungen).
Während der eine Partner ein stärkeres Bedürfnis hat, seine defizitäre Maskulinität zu ergänzen, scheint der andere von stärkeren Aggressionen und der Notwendigkeit ihres Abbaus gesteuert zu sein. Ferenczi beobachtete bei einem seiner Patienten den Impuls, wann immer sich dieser durch einen anderen Mann bedroht fühlte, sofort einen Stricher aufsuchen zu müssen, um die aufgebaute Aggression loszuwerden. Am liebsten ficke ich dich, wenn ich mich vorher über dich geärgert habe, sagte mir einmal mein Freund. Den aktiven oder passiven Part zu übernehmen, scheint nach diesen Überlegungen weniger der freien Wahl zu entspringen, als vielmehr ein definiertes Bedürfnis im Gefühlshaushalt zu befriedigen.
Sollte einmal Unsicherheit in Bezug auf den exakten Standpunkt des anderen bestehen, so kann man mittels einer Beobachtung Freuds zur Aufklärung beitragen. Schon 1908 hat er in Charakter und Analerotik festgestellt, dass Analerotiker häufig auch ordentlich, sparsam und eigensinnig wirken. Er verband dies mit der Beobachtung, dass genau jene Personen als Kinder durch die Verweigerung auffielen, zur vorgeschriebenen Zeit zu defäkieren und unterstellte aus dieser Zurückbehaltung die gewollte Steigerung eines analen Lustgewinns. Seine Annahme, dass die Analerotik zu jenen Komponenten des Sexualtriebes gehört, die im Laufe der Entwicklung für sexuelle Zwecke unbrauchbar wird, straft die Dildoindustrie jedoch Lügen. Und selbst von nur einseitig benutzbaren Heteromännern hat man schon anderes gehört.