Die COVID-19-Krise zwingt viele von uns, drinnen zu bleiben. Aber schauen wir auch hinein? Andrew G. Marshal bietet in Berlin und London Coaching für schwule und heterosexuelle Paare. Wir baten ihn, uns zu helfen, etwas tiefer zu graben.
Andrew, was bedeutet diese Zeit der Isolation für uns in Bezug auf unsere Beziehungen?
Die Krise hat elementare Unterschiede zwischen Menschen, die in Beziehungen sind und denen, die es nicht sind, offengelegt. Soziale Isolation wird anders erlebt, wenn man jemanden hat, den man streicheln, berühren, küssen und im Bett kuscheln kann.
Berlin hat eine sehr entspannte, offene Community, in der jeder seine Freunde umarmt. Dort erlebst du viele grundlegende soziale und physische Kontakte, auch wenn du nicht in einer Beziehung bist. Du fühlst dich dadurch geerdet und wirklich als Teil einer Gemeinschaft. Plötzlich ist das weg. Zwar kannst du deine Freunde sehen, aber eben nur aus der Ferne. Wenn du nicht in einer Beziehung bist, verlierst du damit auch einen großen Teil der Berührungen.
In gewissem Sinne haben schwule Männer Glück, weil sie körperlichen Kontakt normalerweise jederzeit haben können. Sei es in der Sauna oder per App, über die Sex zu jeder Tages- und Nachtzeit möglich ist. Nun geht das auf einmal nicht mehr und es entsteht eine große Lücke. Diese bringt viele tiefere Gefühle ans Tageslicht, die sonst nie wirklich angesprochen werden.
Welche Art von Gefühlen?
Beispielsweise Bindungsprobleme. Unsere erste Bindung entsteht mit unserer Mutter. Einige Mütter umarmen ihre Kinder, lassen sie auf Knien auf und ab hüpfen und helfen ihnen dabei, mit schwierigen Dingen fertig zu werden. Kleine Kinder können ihre Gefühle nicht selbst regulieren. Eine Mutter kann aber ein Gefühl der Sicherheit vermitteln.
Wenn du das nicht hattest oder eine eher unvorhersehbare Form von Fürsorge erfahren hast, sind deine Beziehungen wahrscheinlich eher On-and-Off. Einerseits willst du diese Liebe unbedingt erfahren, andererseits überwältigt sie dich, wenn sie da ist und macht dir Angst, weil du sie verlieren könntest.
Intimität spielt sich auf mehreren Ebenen ab. Es ist ein großer Unterschied, ob du zu jemandem nach Hause gehst, seinen Schwanz lutscht oder mit der ganzen Person Liebe machst.
Oberflächlicher betrachtet ist das Schwanzlutschen ein sehr effektiver Weg, um jemandem näher zu kommen. Es besteht kein emotionales Risiko, aber es ist unmöglich, jemandem wirklich nahezukommen, ohne ein Risiko einzugehen.
Das alles gehört zu den Strategien, die wir entwickelt haben, um Intimität zu schaffen.
In einer überschaubaren Art und Weise, die wir „bestellen“ und konsumieren können, ohne uns mit der Komplexität auseinanderzusetzen. Diese Strategien sind zum Teil jetzt zerfallen. Also muss man sich das tieferliegende, teils schmerzhafte Material ansehen. Menschen, die eine langfristige Ambivalenz in Bezug auf Beziehungen haben, wollen einerseits verzweifelt eine Beziehung, scheinen andererseits aber nie in der Lage zu sein, eine zu haben.
Frage dich selbst: Warum wünsche ich mir gleichzeitig eine Beziehung, kann aber keine haben? Oder warum sind die Leute, die ich wähle, nicht verfügbar. Etwa Menschen, die in einer anderen Stadt leben oder sich weigern die Tatsache, dass wir in einer Beziehung sind, als Beziehung zu bezeichnen.
Wie sollte man sich diesen Dingen nähern? Wie öffnen wir diese Box?
Zuerst musst du deine Muster erkennen. Oft liegt eine Push-Pull-Dynamik vor: Der eine stößt weg, der andere klammert. Ein Beispiel: Du entscheidest dich für jemanden, der 20 Jahre jünger und nicht verfügbar ist und der dich ständig wegstoßen wird. Irgendwann denkst du: „Es reicht mir jetzt“ und lässt dich auf jemanden ein, der eine Beziehung will. Der bleibt dann aber nicht nur zum Kaffee, sondern zum Mittag- und Abendessen, und bevor du dich umsiehst wirst du ihn nicht mehr los. Nun wirst du zu demjenigen, der wegstößt. Dies nennen wir Push-Pull-Muster: Das Hin- und Herwechseln zwischen Wegstoßen und Klammern.
Du denkst, es liegt an den Typen, die du trifft. Entweder sie sind Idioten oder wirklich anhänglich. Aber du musst überlegen, was der gemeinsame Nenner bei alldem ist. „HOPPLA! Das bin ja ich!“ Dies zu erkennen ist oft schwer für Menschen. Besonders dann, wenn alle anderen in deinem Umfeld ihre Bedürfnisse nach Intimität mit billigem Sex bedienen.
Du musst also wirklich nach den Mustern suchen und einsehen, dass man trotz Rollentausch immer noch dasselbe „Spiel“ spielt.
Wie sieht eine solche Reise der Erkenntnis aus?
Du brauchst zunächst Mut, um tatsächlich hinzuschauen. Du kannst mit deinen Freunden sprechen, in dein Tagebuch schreiben oder mit einem Therapeuten reden. Und du musst dich kritisch mit deinen Eltern auseinandersetzen und damit, wie ihr Verhalten heute noch deinen Umgang mit anderen Menschen beeinflusst.
Du wirst nicht verrückt, du wiederholst lediglich die Muster, die du gelernt hast. Es ist nichts falsch mit dir. Dieses Schwanzlutschverhalten ist eigentlich ein Weg, um mit sexueller Intimität umzugehen. Es ist eine ziemlich clevere Art, das Problem zu lösen, aber mehr auch nicht – du verwaltest das Problem, anstatt es tatsächlich zu behandeln.
Kannst du uns mehr über deine Arbeit mit der Eltern-Dynamik erzählen?
Ich leite einen Workshop mit dem Titel „Facing the Father Wound“ – den Verwundungen durch den Vater begegnen. Zunächst stellen die Teilnehmer*innen sich vor und erzählen, was sie sich von der Erfahrung versprechen. Noch bevor die Runde zu Ende ist, sind alle schon in Tränen aufgelöst – so stark ist dieses Material. Unsere Beziehungen zu unseren Müttern sind noch komplizierter. Als schwule Männer verbringen wir viel Zeit damit, unseren Müttern zu gefallen, weil wir uns von unseren Vätern abgelehnt fühlen. Unsere Mütter verstehen das intuitiv oft auch. Der Knoten zwischen Müttern und schwulen Söhnen ist also oft noch verdrehter als bei heterosexuellen Männern.
Was passiert, wenn man das Push-Pull-Muster nicht durchbricht?
Es wird sich nichts verändern. Und du läufst Gefahr, genau das zu werden, was jeder fürchtet - eine verbitterte alte Queen.
Das wollen wir sicher nicht. Danke, Andrew.
Es war mir ein Vergnügen.
Andrew G. Marstall kann über www.couplestherapy.berlin kontaktiert werden.