Sebastian Goddemeier hat die Berliner Psychologin Ulrike Schneider-Schmid ins Büro eingeladen, um mit ihr Pornos zu gucken. Denn er wollte etwas über unsere Gesellschaft, unsere Wünsche und unser sexuelles Verlangen lernen.
Rourke hält seinen Hintern in die Kamera. Er ist schmal gebaut, trägt weiße Spitze und spielt mit einem lackierten Finger an seinem Poloch. Dann tritt Zilv ins Bild, groß, muskulös, mit unzähligen Tattoos.
Rourke und Zilv sind Pornostars und waren die meistgesuchten schwulen Hobby-Porndarsteller auf Pornhub im letzten Jahr. Ihre Videos werden millionenfach aufgerufen. Sie alle funktionieren nach Schema F: Der feminine Rourke lässt sich von Zilv gnadenlos durchknallen und sagt immer wieder „Ja, gib’s mir Daddy”. Die beiden trennt ein Altersunterschied von sechs Jahren, sie kommen aus Essex und sind verlobt, so steht es zumindest in ihrem Profil.
In ihren selbstgedrehten Sexfilmen, leben Zilv und Rourke ihre Fantasien aus – und damit auch die Fantasien der Zuschauer. Denn so funktioniert Porno, egal ob homo oder hetero: Er ist eine Fantasie.
Die Psychologin Ulrike Schneider-Schmid erklärt das so: „In Pornos menschelt es sehr. Einerseits kann man die Wünsche und Fantasien einer Gesellschaft ablesen, andererseits aber auch die Dinge, die im Alltag verboten sind.”
1. Verbote machen geil
Anna und Elsa aus Frozen in einem als Märchen getarnten Lesben-Porno, Berlin Tag und Nacht-Darsteller und einfache „Sex mit dem Handwerker”-Filme begegnen uns auf Pornhub. Oder, wie Schneider-Schmid sagt: „Alle Aspekte des menschlichen Lebens findet man in Pornos”. Aber: Pornos sind dennoch Fantasien und die bekommen den besonderen Kick, wenn sie zwar im realen Leben stattfinden könnten, aber so für den Zuschauer nicht auslebbar sind.
„Es gibt so viele sexuelle Spielarten, exibitionistische Züge, Fetische oder etwaige sexuelle Praktiken. Man hat vielleicht nicht immer den Partner, der solche Vorlieben teilt. Da kommt dann die Fantasiewelt der Pornos ins Spiel.” Nicht jeder, der Pornos schaut, in denen eine Stiefmutter von ihrem Sohn gevögel wird, würde auch seine eigene Stiefmutter flachlegen wollen. „Alles, was anders ist, alles, was verboten ist, das interessiert uns. Da wollen wir Infos! Das ist eine andere Art von neuronaler Erregung, die dann zur sexuellen Erregung beisteuert.”
Denn es seien vor allem Verbote, so Schneider-Schmid, die die sexuelle Lust verstärken. Diese Verbote und Tabus werden in Pornos benutzt, damit der Zuschauer sie nicht selbst brechen muss. „In Pornos werden Tabus abgetastet. Was ist verboten? Die Stiefschwester, die mich bittet, in ihr zu kommen zum Beispiel. Oder Sex am Strand.”
Die Verbote sind übrigens nicht immer politisch korrekt, im Gegenteil: Interracial Porns seien laut Schneider-Schmid in den USA besonders beliebt, zum Beispiel Titel wie „White housewife gets kidnapped by five black guys”. Alles an Klischees werde bedient.
Es gibt auch richtig gute lesbische Erotik, die nicht aus der Perspektive des heterosexuellen Mannes passiert.
2. Wir wollen uns mit den Darstellern identifizieren können
Nicht nur die Fantasie an sich, auch die Identifikation ist ein wichtiger Faktor im Porno: Im letzten Jahr liebten die Deutschen vor allem deutsche Pornos. Am häufigsten wurden die Begriffe „Deutsch” und, weil wir auch Englisch können, „German” gesucht. Warum? Schneider-Schmid sagt: „Wenn man ‚Deutsch' in der Suche eingibt, werden sehr natürliche, ungestellte und amateurhafte Filme vorgeschlagen. Man sieht die Billigcouch, die man vielleicht vom Nachbar kennt, Zigaretten liegen rum, Bierflaschen. Es wirkt sehr authentisch und sehr nah.”
Pornos, die aussehen, als seien sie in der Nachbarwohnung aufgenommen worden, wirken für den Zuschauer realer. Die Fantasie vermische sich mit dem, was man aus dem eigenen Leben kennt. Projektion und Identifikation vermischen sich: „Wenn man nun deutsche Pornos sucht, kann es sein, dass man etwas sucht, das dem eigenen Leben entspricht, aber um Aspekte wie Dirtytalk, Analsex oder einen Fetisch ergänzt wird, die im eigenen Leben fehlen. “
2. Wir wollen mit Macht spielen
Ein weiterer Punkt der Pornographie ist die vermeintliche Erniedrigung: Von der Startseite des Pornoportals schauen uns gleich mehrere Frauen entgegen, die auf Knien auf den Samenerguss ihres Partners warten. Wie weit ist die sexuelle Erniedrigung mit dem Feminismus und der Emanzipation der Frau im Jahr 2020 vereinbar?
Für Ulrike Schneider-Schmid ist das kein Widerspruch. „Auch Frauen wollen manchmal die Kontrolle abgeben, sich hingeben, sich als Objekt fühlen. Sie wollen das Gefühl bekommen, begehrt zu werden.” Dieses Verhalten spräche sogar eher für einen Zugewinn an weiblicher Selbstermächtigung: „Es ist ja nichts mehr emanzipatorisch, als zu sagen, in diesem Moment gebe ich mich bewusst hin und ich habe die Entscheidung, zu sagen, was ich möchte. Ambivalenz zwischen Hingabe und Dominierung ist sehr wichtig.” Auf Platz drei der meistgesuchten Begriffe bei Pornos befindet sich übrigens der Suchbegriff „Femdom”, also dominante Frauen, die Männer beherrschen.
Eine Langzeitstudie des Wiener Instituts für angewandte Tiefenpsychologie hat gezeigt, dass 27,5 Prozent der Frauen Erregung dadurch erfahren, jemandem ausgeliefert zu sein. Bei Männern waren es 26,2 Prozent. „Das heißt, dass das Gefühl, jemandem ausgeliefert zu sein, durchaus Erregung auslöst.”
Den Wunsch nach Erniedrigung kann man aber auch tiefenpsychologisch erklären, und zwar mit dem Ödipuskomplex. Sigmund Freud erklärt darin den Wunsch eines Sohnes, mit seiner Mutter zu schlafen. „Unbewusste, verschobene, verdrängte Wünsche bestraft zu werden oder zu bestrafen, kommen in Pornos oft zum Tragen.” All das liege in der Kindheit und in den Beziehungen zu den Eltern begründet. Hier kommen auch Milf-Pornos ins Spiel. „Das sind verdrängte Liebes- und Hassimpulse, die man dadurch sublimiert und auslebt.” Gleiches gilt für Daddy-Filme.
Im Beispiel von Zilv und Rourke spielen Erniedrigung und Sperma eine große Rolle. Rourke wird gewürgt, hat hier und da Zilvs Fuß im Gesicht und bekommt eine Spermaladung nach der anderen ab. Natürlich findet Rourke das alles super geil und schreibt auf Twitter an ihre 250.000 Abonnenten: „Ich liebe es, wenn Daddy meinen Rachen mit seinem dicken, saftigen Schwanz fickt, während ich hübsch und süß dort liege für meinen Mann. Daddys süßes kleines Boytoy sein, das er benutzen und missbrauchen kann. Ich liebe meine Belohnung, den Geschmack seines leckeren, warmen Spermas.” Ein Tweet, der viele Spektren des Pornos vereint.
3. Wir sind Tiere: Wir wollen fruchtbar sein und befruchtet werden
Foto: Dainis Graveris / Unsplash / CC0
Frau Sperma
Wir klicken weiter, suchen uns durch die Filme, um Auffälligkeiten zu finden. Dabei fällt unser Blick auf die Frauen: Sie sehen sich alle sehr ähnlich. Große Brüste, schmale Taille, breite Hüften. Was bedeutet das?
„Zuerst einmal sagt das mehr über die Macher der Pornos, als über die Frauen selbst: Frauen haben in den Augen der Männer eine gewisse Weise auszusehen”, sagt Schneider-Schmid. Die Gründe dafür findet man allerdings in der Biologie: Der durchschnittliche Körper einer Pornodarstellerin vereint gewisse Aspekte, die auf eine hohe Fertilität der Frau hindeuten: große Brüste, breites Becken, schmale Taille.
„Das ist absolut archaisch, aber das ist eben auch Porno.”
Vielleicht sind all diese Attribute ein Grund dafür, wieso die Kardashians so erfolgreich sein. Sex sells – vor allem unterbewusst und triebgesteuert. Was die Frauen mit den breiten Becken und den großen Brüsten und den schmalen Taillen abbekommen, ist eine Menge Sperma. Sperma, Sperma, Sperma. Ü B E R A L L. In jedem Film. Und wenn es um Sperma geht, ist es egal, ober der Film hetero- oder homosexuell ausgelegt ist. Cumshots so weit das Auge reicht, ungeschützter Verkehr und Creampies. Warum? Einerseits liege das daran, dass es schwer sei, Gefühle in Pornosvisualisieren: „Dass Cumshots so beliebt sind, liegt daran, dass die Macher sehr eingeschränkt sind, emotionale Zustände darstellen zu können. Der Cumshot visualisiert den Orgasmus. “ Der andere Grund aber ist auch hier die Biologie:
„Es geht ganz einfach ums Befruchten.”
Durch das Sperma wird der tief liegende Trieb des Menschen, der Trieb nach Fortpflanzung, getriggert. Darauf weisen Filme wie „Ich habe mein Tinder-Date beim ersten Mal geschwängert‘ oder „Ich soll die Frau meines besten Freundes schwängern'‘ hin. „Das ist wieder ein Tabu, das gebrochen wird”, sagt Schneider-Schmid.
Ungeschützten Verkehr in Pornos sieht Schneider-Schmid allerdings nur ungern: Die Zuschauer würden sich damit zwar keiner Gefahr aussetzen und ihr Fantasien befriedigt bekommen, die Darsteller allerdings seien sehr gefährdet. „Die einzigen Male, die ich Kondome gesehen habe, war auf den Gay-Seiten. Vielleicht herrscht dort ein höheres Bewusstsein für Geschlechtskrankheiten.”
4. Pornos schaffen Bilder einer idealen Welt
Pornos werden hauptsächlich von Männern konsumiert. Doch ein Drittel der Pornokonsumenten auf Pornhub sind mittlerweile Frauen. Die Effekte sind allerdings für beide nicht ausschließlich positiv. Ja, sie stimulieren unsere Fantasien und unser Begehren – aber sie machen uns auf Dauer nicht glücklicher.
„Ein hoher Pornokonsum wirkt sich negativ auf die sexuelle Zufriedenheit im realen Leben aus”, sagt Schneider-Schmid. Die Videos werden als Skripte verwendet und die eigene Fantasie und das Gefühl gehen verloren. Das eigene Körperbild verschlechtert sich, gender attitudes werden implementiert und die Wahrscheinlichkeit, casual Sex ohne Kondom zu haben, steigt. Außerdem vermitteln Pornos oft das Bild einer toxischen Maskulinität. „Manche Konsumenten nehmen die Pornos als Vorlage für das reale Leben.” Das gelte auch für die Demütigung, die sie darin sehen können.
*Sebastian Goddemeier
Dieser Artikel ist zuerst bei Vice erschienen