Bernd ist Anfang sechzig. Seine Tage verbringt er damit, „über den Tag zu kommen“. Eigentlich will er sterben. Seit zwei Jahren leidet er an Knochenkrebs. Das Morphium wirkt zwar teilweise, den Schmerz in den Knochen kann es jedoch nicht beseitigen. Hinzu kommen die Nebenwirkungen: Schlaflosigkeit, Verstopfung, permanente Verwirrung, um nur einige zu nennen. Was davon am Schlimmsten ist, kann er gar nicht mehr sagen.
Ohne Angehörige kann es durchaus geschehen, dass man nach und nach im Krankenhaus- oder Pflegesystem verschwindet und solange am Leben gehalten wird wie eben möglich. Auch wenn man das selbst gar nicht will.
Bernd weiß, dass er noch Glück hat. Finanziell ist er gut abgesichert und sein Partner hat ihn nicht verlassen. Da gibt es zahlreiche andere Schicksale. Ohne Angehörige kann es durchaus geschehen, dass man nach und nach im Krankenhaus- oder Pflegesystem verschwindet und solange am Leben gehalten wird wie eben möglich. Auch wenn man das selbst gar nicht will. Besonders schwierig wird es dann, wenn man Entscheidungen nicht mehr selbst treffen kann, etwa im Fall eines (Wach-)Komas, bei Altersdemenz oder einer schwereren geistigen Behinderung.
Tod und Geburt
Der Tod verbindet die Menschen. Weil er eine Erfahrung ist, die in allen Kulturen zu jeder Zeit gemacht wird. Aber anders als etwa bei der Geburt, bei der sich alle einig sind, dass man diese möglichst gut und dem Wohl von Mutter und Kind entsprechend gestalten sollte, scheiden sich hier die Geister. Könnte man sich heute noch vorstellen, dass eine Mutter strikt ohne Fremdeinwirkung ein Kind auf die Welt bringen soll? Aus ethischen Gründen? Nein. Warum also ist der Gedanke daran, dass uns eine Fachkraft beim Sterben zur Hand geht, so kontrovers?
Recht und Moral
Der Hippokratische Eid gilt als erste grundlegende Formulierung einer ärztlichen Ethik. Benannt ist er nach dem griechischen Arzt Hippokrates von Kos (um 460 bis 370 v. Chr.) und viele Mediziner berufen sich noch heute in ihrer Entscheidungsfindung auf dieses moralische Erbe.
In der deutschen Übersetzung des Eides findet sich auch folgender Satz: „Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten.“ Direkt gefolgt von diesem Satz: „Auch werde ich nie einer Frau ein Abtreibungsmittel geben.“
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Unser kulturelles Verständnis von Medizin stellt die Lebenserhaltung über alles. Die Selbstbestimmung kommt jedoch oft zu kurz. Es steht außer Frage, dass die Entscheidung, eine Abtreibung vorzunehmen, letztlich bei der Person liegt, die auch für die Geburt zuständig ist. In dem Fall also die Mutter. Und beim Sterben sollte das Recht zur Entscheidung bei den Sterbenden liegen.
Aus jenem und anderen Gründen wurde daher im Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Die Begründung: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Ein neues Regelwerk, wie dieses Recht umzusetzen ist, wurde noch nicht implementiert.
Neue Zeiten brauchen neue Regelungen
Als Gesellschaft stehen wir an einem kritischen Punkt. Anders als noch vor einhundert Jahren bestimmen wir größtenteils selbst über unser Leben. Wir wählen Beruf, Partner, Lebenskonzept und Identität. Über die Art und Weise wie wir Sterben entscheiden im Moment jedoch noch andere, weil wir uns in einer rechtlichen Grauzone befinden.
Verschiedene Gesetzentwürfe werden derzeit geprüft, etwa der von Renate Künast und Katja Keul (Bündnis 90/Die Grünen). Demzufolge soll Sterbewilligen der „kontrollierte Zugang“ zu den dafür erforderlichen Betäubungsmitteln ermöglicht werden. Gleichzeitig soll regelhaft eine ärztliche Zweitmeinung eingeholt werden, Verfahren zur Sicherung der Selbstbestimmung eingeführt sowie Schutz vor Missbrauch gewährleistet werden. Zudem sind Regulierungen von Sterbehilfevereinen und nötige Sanktionsregelungen vorgesehen.
Religiöses Erbe
Mit der Einführung eines alles beherrschenden Gottes durch monotheistische Religionen wie das Christentum kam auch die Idee, dass allein dieser Gott über das Leben verfügt. Eigenmächtigkeit und Selbstbestimmung waren fortan verpönt. Wie übrigens auch Homosexualität und viele andere Freiheiten, die wir uns erst im letzten Jahrhundert mühsam zurückerkämpft haben.
Unser theologisches Erbe muss kritisch hinterfragt werden, zumindest, wenn es einem Persönlichkeits- oder Selbstbestimmungsrecht widerspricht.
„Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn, wenn ich schwach bin, so bin ich stark." So steht es in einem Brief von Paulus an die Korinther. Das heißt aber noch lange nicht, dass Leiden und Schmerzen eine ausdrückliche Prüfung Gottes sind. Unser theologisches Erbe muss kritisch hinterfragt werden, zumindest, wenn es einem Persönlichkeits- oder Selbstbestimmungsrecht widerspricht. Wozu sonst hätte uns Gott so tolle Dinge beschert wie den freien Willen und einen Verstand?
Patient*innenverfügung
Um sicherzustellen, dass das Lebensende den eigenen Vorstellungen entsprechend verläuft, kann man eine Patientenverfügung (derzeit noch ungegendert auf der Webseite des Bundesgesundheitsministeriums) erlassen. Damit wird sichergestellt, dass der Patient*innenwille umgesetzt wird, auch wenn er in der aktuellen Situation nicht mehr geäußert werden kann.
Liegt keine Patientenverfügung vor oder sind die Festlegungen in einer Patientenverfügung zu unkonkret oder zu allgemein, entscheiden die Vertreter*innen gemeinsam mit den Ärzt*innen auf der Grundlage des mutmaßlichen Patient*innenwillens über die anstehende Behandlung.
Achtung: Bei besonders folgenschweren Entscheidungen kann es passieren, dass zusätzlich die Genehmigung des Betreuungsgerichts eingeholt werden muss.
Gott und Gesetz
Kann man es Bernd verübeln, dass er sterben will? Darf man es Ärzt*innen zumuten, ihren Patient*innen als letzten Wunsch ein tödliches Gift zu verabreichen? Sollte Sterbehilfe ein profitables Geschäftsmodell sein? Dies sind Fragen, die uns kein Gesetz und auch kein Gott beantworten kann.
Die Hilfe beim und zum Sterben muss aber gesetzlich in einer Art geregelt werden, die die Selbstbestimmung als oberstes Gebot anerkennt. Denn erst dann können wir überhaupt über eine zeitgemäße Moral diskutieren, die mit unseren modernen Grundidealen von Einigkeit und Recht und Freiheit übereinstimmt.
Rund 10.000 Menschen nehmen sich jährlich in Deutschland das Leben. Wenn du Selbstmordgedanken hast, egal ob aus psychischen oder körperlichen Gründen, wende dich bitte an eine der vielen Stellen, die sich mit dem Thema auskennen. Die Telefonseelsorge etwa bietet rund um die Uhr sofortige Hilfe per Telefon, Mail und Chat an:
0800 / 111 0 111
0800 / 111 0 222