EMIS 2017 heißt die größte jemals durchgeführte europaweite Datenerhebung zum Sexualleben und der sexuellen Gesundheit von Männern, die Sex mit Männern haben (MSM). EMIS steht für European Men-Who-Have-Sex-WithMen Internet Survey.
Die Online-Befragung, zu der unter anderem in unseren Magazinen und über die Datingplattform ROMEO aufgerufen wurde, fand vom 18. Oktober 2017 bis zum 31. Januar 2018 statt. Fast 128.000 Männer (99 Prozent Cis-Männer, 1 Prozent Transmänner) aus 50 Ländern nahmen teil. Die erst im Spätsommer veröffentlichten Ergebnisse liefern ein für Prävention und Politik unglaublich umfangreiches Abbild über die Lebenswirklichkeit homo- und bisexueller Männer in Europa.
Deutschland, deine MSM
Rund 22.000 Teilnehmer von EMIS 2017 gaben an, in Deutschland zu wohnen. Von ihnen gaben elf Prozent an, nicht hier geboren zu sein, und zehn Prozent ordneten sich einer ethnischen Minderheit zu. 78 Prozent bezeichnen sich selbst als schwul oder homosexuell und nur 24 Prozent leben ihre sexuelle Orientierung komplett versteckt aus oder gaben an, sich nur wenigen Menschen gegenüber geoutet zu haben. 46 Prozent leben in einer Partnerschaft. Diese gesellschaftlich anscheinend relativ hohe Akzeptanz drückt sich auch im Vergleich psychischer Faktoren aus: Rund 23 Prozent der deutschen Teilnehmer bezeichneten sich als sexuell unzufrieden. Zufriedener mit ihrem Sex waren die Männer aus den Niederlanden (nur 11 % Unzufriedene), Island (15 %) und Spanien (16 %). Am schlechtesten bewerten Männer aus Nordmazedonien (37 % Unzufriedene), dem Libanon, aus Albanien, dem Kosovo und Montenegro (34 %) sowie Ungarn und Schweden (31 bzw. 30 %) ihr Sexualleben. Was bedeutet das konkret?
Sex und sein Einfluss auf die psychische Gesundheit
Es ist bekannt, dass Minderheiten häufiger an Depressionen leiden oder sogar suizidgefährdet sind. Auch die Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit gehört zu den Stressfaktoren, die sich diesbezüglich negativ auswirken. Die Zahlen sind alarmierend:
- 18 Prozent litten in den zwei Wochen vor ihrer Teilnahme an EMIS 2017 von mindestens mittelstarken nervösen oder depressiven Zuständen
- 8 Prozent davon unter schweren
- Schwere Störungen des Wohlbefindens traten überdurchschnittlich bei den MSM auf, die im Jahr vor der Befragung erfuhren, dass sie HIV-positiv sind (14 Prozent)
- 21 Prozent der Teilnehmer haben in den zwei Wochen vor der Befragung sogar an Suizid oder Selbstverletzung bzw. Schädigung gedacht
MSM aus dem Libanon, der Ukraine, Russland, Montenegro, dem Kosovo, Albanien und Nordmazedonien, haben mit 13 bis 16 Prozent besorgniserregenden hohe Werte bei schweren nervösen oder depressiven Zuständen. In Deutschland litten darunter nur fünf Prozent der Teilnehmer. Allerdings hatten hierzulande auch fast 16 Prozent in den vergangenen zwei Wochen vor Befragung Suizidgedanken oder wollten sich selbst, zum Beispiel durch übermäßigen Drogenkonsum oder riskantes Sexverhalten, selbst schädigen. Auch hier überstieg die Zahl der Menschen mit frischer HIV-Diagnose die des Durchschnitts wieder deutlich.
Analog zu den hohen Fallzahlen mit schweren nervösen oder depressiven Zuständen, war in den schon genannten Ländern am Ende der Skala auch die Unzufriedenheit mit dem Sexualleben am höchsten. Eine Ausnahme macht hier überraschend Schweden, wo 30 Prozent der Teilnehmer mit ihrem Sexleben unzufrieden sind. Der Durchschnittswert beträgt 23 Prozent, Deutschland liegt genau bei diesem Anteil.
Dr. Dirk Sander, Schwulenreferent der Deutschen AIDS-Hilfe, kommentierte dies so:
„Aus den Daten der EMIS-2017-Studie stellen sich die Gesundheit und die Krankheitsrisiken schwuler und bisexueller Männer als vielschichtig und komplex dar. Abwertungserfahrungen und Bewältigungsverhalten zeigen sich als physische und psychische Krankheitsmuster. Immerhin 23 Prozent der befragten deutschen Männer, die Sex mit Männern haben, finden sich am unteren Ende einer Skala der sexuellen Zufriedenheit.“
Voll peinlich! So ist das manchmal, wenn’s um Sex geht, oder? Es gibt Themen, über die will man nicht mit jedem reden. Das ist voll O.K. Mit der besten Freundin oder dem besten Kumpel ist es ja auch nicht immer easy, offen über Sex zu sprechen. Oder darüber, worauf man steht. Oder über Geschlechtskrankheiten. Oder gar über einen HIV-Test. Aber Testhelden brechen auch Tabus! Also: „Let’s talk about sex“ – dann fällt es auch einfacher, sich checken zu lassen.
Tripper, Syphilis und Co.
Wie gehen MSM mit sexuell übertragbaren Krankheiten um, wie verbreitet sind sie? Einige Kennzahlen.
- 4 Prozent hatten im Jahr vor der Umfrage Syphilis, 5 Prozent Gonorrhö (Tripper), 5 Prozent Chlamydien
- 1 Prozent hat eine positive HIV-Diagnose bekommen (insgesamt gaben 10 Prozent der Teilnehemr an, HIV-positiv zu sein). Deutschland liegt hier wieder genau im Durchschnitt der Studie.
- 7 Prozent hatten eine Hepatitis A
- 6 Prozent hatten eine Hepatitis B
- 2 Prozent hatten schon einmal eine Hepatitis-C
Mythos Truvada-Hure
Insgesamt ist die Testbereitschaft von MSM (verglichen mit der Allgemeinbevölkerung) hoch: Mehr als jeder zweite Befragte (56 Prozent) ließ sich im Jahr vor EMIS 2017 auf HIV testen, 46 Prozent auf andere STI. Diese Werte führen direkt zur Frage, wie es um das persönliche Wissen um Ansteckungswege und die Präventionsstrategien bestellt ist. Denn wie oft hört man besonders in Bezug auf PrEP oder Schutz durch Therapie, dass „die Schlampen“ verantwortungslose Virenschleudern wären, was mit den Zahlen nicht übereinstimmen kann, denn beide HIV-Präventionsmethoden setzen regelmäßige Arztbesuche und damit ein engmaschiges Screening auf STI voraus. Anders formuliert: Würde jeder die PrEP wie verordnet nehmen, hätten sich 100 Prozent testen lassen.
Und tatsächlich: 85 Prozent der Befragten hatten in den zwölf Monaten vor der Umfrage mindestens einmal Analverkehr mit einem Mann und 61 Prozent mindestens einmal Analverkehr ohne Kondom. Analverkehr ohne Kondom mit einem Partner, dessen HIV-Status sie nicht kannten, hatten rund 24 Prozent aller und 20 Prozent der deutschen Befragten. Und das bei nur rund drei Prozent PrEP-Nutzern, in Deutschland sogar nur zwei Prozent.
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