Im August gründete sich ein neues queeres Netzwerk. QueerL will sich der queeren Lyrik widmen. Wir fragten bei Gründungsmitglied Dr. Stefan Hölscher nach, der für dieses Magazin erst im Juni das Essay „Queere Lyrik – wen juckts?“ veröffentlichte.
Was fasziniert dich so an (queerer) Lyrik, dass Du ein Netzwerk dazu gegründet hast?
Für mich ist Queerness mehr als eine gegenüber der Mehrheit abweichende Form von sexueller Orientierung oder Identität. Queerness durchzieht das ganze Leben. Natürlich manifestiert sie sich zunächst darin, lesbisch, schwul, bi, transgender, intersexuell etc. zu sein. Nach meine Erfahrung strahlt Queerness aber aus: Auf den Blick auf die Welt, die Wahrnehmung von Normen, Haltungen und Spielregeln, die das Miteinander im Kleinen wie im Großen regulieren, auf ästhetische Wahrnehmung und auf vieles, vieles mehr. Queere Menschen bewegen sich daher oft auf einem anderen Boden als ‚Normalos‘ oder nicht selten auch auf unterschiedlichen und beweglichen Böden ihrer Existenz. Das kann natürlich auch für einen selbst befremdlich, bedrohlich, aber auch faszinierend und aufregend sein. Nach meiner Erfahrung ist es zumeist eine Mischung aus alledem, besonders natürlich bei Künstler*innen, die wohl noch etwas empfindlicher auf sich selbst die Welt reagieren als viele andere Menschen.
Ich halte daher Querness für eine besonderen Ermöglichungsgrund von Kreativität. Zugleich gilt ja: Gemeinsam ist man stärker. Also ein Netzwerk kann helfen, sich auszutauschen, miteinander künstlerische Aktivitäten zu entfalten und sichtbarer zu werden. Schließlich stolpere ich persönlich gerade in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik über ein sehr hohes Maß an komplexer Sprödigkeit. Von psychologischer Seite aus, die sich ja nach Meinung sehr vieler Literat*innen am besten gar nicht zur Literatur äußern sollte, würde ich sagen: Hier schwingt auch eine gute Portion Angst vor direkter Emotionalität und Angst davor mit, dass, wenn es einfach wäre, was man zu sagen hat, es gar keine künstlerische Existenzberechtigung mehr beanspruchen könnte. Dies halte ich für eine vollkommen unnötige Verengung des künstlerischen Raums. Queerness bietet hier mehr Möglichkeiten: Denn sie darf und wird (!) einfach auch mal schrill oder roh, naiv oder sentimental, tragikomisch oder völlig neben der Spur sein. Und vieles mehr. Vor allem aber: Dies alles gerne auch im fliegenden Wechsel. Vermutlich würde nicht alle Mitglieder*innen unseres Netzwerks dies 1:1 so unterschreiben. Aber wir dürfen ja auch untereinander verschieden sein.
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Letzter Punkt: Ich denke, dass in Zeiten der Öffnung der Ehe für alle und dem Adoptionsrecht für homosexuelle Paare queere Lyrik, die ja immer auch eine doppelte Außenseiterstimme ist als Lyrik und als queer, keinesfalls der Stoff ausgegangen ist. Es gibt jede Menge lyrisch zu sagen – gerade auch Queeres. Und da beginnt es doch schon interessant zu werden. Denn was sind überhaupt queere Gedichte? Dies auszuloten auch in einem Netzwerk queerer Lyriker*innen finde ich allein schon die Sache wert.
Welchen Zeitraum soll die geplante Anthologie queerer Lyrik erfassen?
Das Projekt ist ja noch in einem Planungsstadium. Meine Idee wäre allerdings, dass es dabei um aktuelle deutschsprachige Lyrik von queeren Lyriker*innen geht, die zum QueerL Netzwerk gehören. Da die Anthologie ja aber erst 2021 erscheinen und 2020 auf den Weg gebracht werden soll, haben wir für die nähere Konkretisierung dieser Fragen glücklicherweise noch etwas Zeit. Ich freue mich aber jetzt schon auf das Ergebnis; denn es wird eines geben, und zwar auch wie geplant 2021 veröffentlicht. Wir heißen ja nicht Berliner Großflughafen.
27.3.2020, Lesung von QueerL-Gruppenmitgliedern, Buchhändlerkeller, Berlin, 20 Uhr, Facebookgruppe
Info QueerL
QueerL ist ein Netzwerk queerer Lyriker*innen. Die Ziele des Netzwerks sind: engerer Austausch zwischen Lyriker*innen, die queer sind und queere Texte schreiben; gemeinsame künstlerische Aktivitäten, etwa Lesungen und Publikationen; Stärkung von Queerness als besonderen Ermöglichungsraum künstlerischer Kreativität, mehr sichtbare Präsenz. Mitglieder können queere Autor*innen, die einen Lyrikschwerpunkt und zumindest eine eigenständige Buchpublikation (nicht im Selbstverlag) veröffentlicht haben werden. Zu den Gründungsmitgliedern gehören unter anderem Klaus Anders, Crauss, Alexander Graeff, Stefan Hölscher, Kevin Junk und Jea von Syburg.