Foto: Salzgeber
Rosy McEwen
Schon als Kind zog es Rosy McEwen vor die Kamera: Beim Casting für die Romanverfilmung „Abbitte“ kam sie als 12-Jährige in die letzte Runde, bevor die Rolle dann doch an Saoirse Ronan ging. Später besuchte sie die Theaterschule in Bristol, stand mit der Royal Shakespeare Company auf der Bühne und spielte kleine Rollen in Serien wie „The Alienist“ mit Luke Evans oder „Close to Me“. Mit der Hauptrolle im Überraschungserfolg „Blue Jean“ von Regisseurin Georgia Oakley, der am 5. Oktober endlich in die deutschen Kinos kommt, gelang der Britin nun der Durchbruch. Für die Rolle der lesbischen Sportlehrerin Jean, die in den späten Achtzigerjahren in Newcastle Job und Privatleben streng trennen muss, weil die unter Thatcher geplante Gesetzeserweiterung Section 28 vorsieht, dass lokale Behörden (also auch Schulen) Homosexualität in keiner Form fördern dürfen, wurde sie unter anderem mit dem British Independent Film Award ausgezeichnet. Wir trafen sie zur Weltpremiere des fantastischen Films beim Filmfestival in Venedig zum Interview.
Ms. McEwen, was war Ihre erste Reaktion, als Sie das Drehbuch zu „Blue Jean“ lasen? Mich beeindruckte auf Anhieb, wie außergewöhnlich gut es geschrieben war. Und ich verstand beim Lesen sofort alle Figuren und wusste genau, wer sie sind. Auch das ist nicht selbstverständlich. Die Regisseurin und Autorin Georgia Oakley beschreibt ihre Figuren so präzise und ausführlich, dass man enorm viel hat, womit man arbeiten kann. Für mich als Schauspielerin war das ein echtes Geschenk.
Wie haben Sie sich der Rolle denn genähert? Jean ist ja eine durchaus komplexe Person, die einerseits eine recht glückliche lesbische Beziehung führt, aber sich andererseits nicht unbedingt wohl in ihrer Haut fühlt, weil bei der Arbeit in der Schule niemand wissen darf, dass sie homosexuell ist. Sie hat vor allem Angst, tief sitzende Angst, dass herauskommt, wer sie ist. Eigentlich wünscht sie sich, frei zu sein und ausleben zu können, wer sie wirklich ist. Aber das geht nun einmal nicht, wenn sie nicht alles verlieren möchte, was sie sich beruflich aufgebaut hat. Diese zermürbende Zwickmühle, an der man schnell zerbrechen kann, musste ich irgendwie versuchen nachzuvollziehen. Und darauf konnte ich dann emotional alles andere aufbauen und habe zum Beispiel ganz viel über Leben in den Achtzigerjahren recherchiert, um wirklich ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Jeans Alltag damals ausgesehen haben könnte. Außerdem hatten wir eine wunderbare Frau namens Catherine Lee als Beraterin an unserer Seite, deren persönliche Geschichte der von Jean sehr ähnlich ist. Das war natürlich eine enorme Hilfe.
Fast muss sich Jean angefühlt haben wie zwei verschiedene Rollen, oder? Eher noch mehr, würde ich sagen. Sie stellt eine ganze Reihe verschiedener „Persönlichkeiten“ zur Schau. Oder sagen wir lieber: Je nachdem, wo sie sich befindet, trägt sie andere Masken. Nur nicht zu Hause, in ihrer Wohnung. Das ist ihr Safe Space, da kann sie atmen und sie selbst sein, und entsprechend sieht man, wie sie diesen Ort hegt und pflegt. In der Schule, gegenüber der Schülerschaft, ist sie eine andere, aber wenn sie im Lehrerzimmer ist oder in eine Lesben-Bar geht, präsentiert sie wiederum eine andere Fassade. Sie weiß immer und überall, was andere womöglich über sie denken könnten, und versucht zu verstecken, wer sie wirklich ist. Das ist ein furchtbarer Drahtseilakt, der unglaublich zermürbend ist.
Das muss auch für Sie ziemlich anstrengend gewesen sein! War es auch. Aber gleichzeitig beflügelt es mich natürlich auch, wenn ich merke, an was für einem einzigartigen Film ich da mitwirke. Und zu wissen, dass Catherine und auch ein paar andere Frauen, die uns von ihren Erfahrungen berichtet haben, genau diese Dinge wirklich erlebt haben, machte selbst die anstrengendsten Tage zu etwas ganz Besonderem. Selbst wenn ich tagelang um fünf Uhr morgens aufgestanden und völlig übermüdet war.
Als Jean irgendwann in einer Bar eine ihrer Schülerinnen trifft, befindet sie sich in einer ganz neuen komplizierten Situation … Das Traurige daran ist eigentlich, dass Jean auf dieses Mädchen namens Lois vor allem eifersüchtig ist. Darauf, dass die das Selbstbewusstsein hat, sich eben nicht zu verstecken. Da realisiert sie umso mehr, dass sie eigentlich gerne mutiger wäre, als sie ist. Aber natürlich kommt sie auch aus einer Zeit, in der es als Lesbe noch viel schwieriger war als für Lois und ihre Altersgenossinnen. Catherine sagte mal zu mir, dass sie vermutlich mehr Mut gehabt hätte, wenn sie geahnt hätte, wie weit wir in Sachen Akzeptanz und Gleichberechtigung von Homosexuellen mal kommen würden. Doch damals lag das jenseits ihrer Vorstellungskraft und sie hatte den Eindruck, sich mit der herrschenden Situation irgendwie arrangieren zu müssen. Das hat mich sehr berührt.
Haben Sie eigentlich den Eindruck, dass man in Großbritannien die Geschichte der diskriminierenden Gesetzeserweiterung Section 28 und ihrer Auswirkungen irgendwie aufgearbeitet hat? Nein, nicht wirklich. Ich war bei meiner Recherche erstaunt, wie wenig es dazu zu finden gab: ein paar Zeitungsartikel, ein Erfahrungsbericht eines schwulen Lehrers, ein anderer eines schwulen Schülers – viel mehr war da nicht. Das ist ein dunkles Geheimnis, das man einfach ausgeblendet hat. Man war froh, als Section 28 irgendwann wieder abgeschafft wurde. Aber dass es sie überhaupt gab, war den meisten so unangenehm, dass man lieber schwieg und so tat, als wäre nichts gewesen.
*Interview: Patrick Heidmann
Mit dem Klick auf das Video stimmst Du diesen Datenschutzbestimmungen von YouTube zu