Foto: Harley Weir
Charli XCX
Eigentlich sind die Zeiten, in denen Charli XCX wie eine Göre durch die Musiklandschaft zog, um jedem zu zeigen, dass ihr jetzt der Laden hier gehört, schon lange vorbei.
Wie damals, als sie mit Iggy Azalea „Fancy“ aufnahm, uns mit Icona Pop den ewigen Klassiker „I Love It“ schenkte und als sie – vor über zehn Jahren – kurz nach der Veröffentlichung ihres ersten Albums „True Romance“ mit dem Electro-Rock-Radau-Duo Sleigh Bells durch die Welt zog, um auf ihre Art „Hallo“ zu sagen. Mittlerweile gehört Charlotte Emma Aitchison, wie sie bürgerlich heißt, zu den etabliertesten und erfolgreichsten Frauen im Business, nicht nur als Solokünstlerin, sondern auch hinter den Kulissen als Songwriterin und Produzentin.
Aber ihre Einstellung hat sich über die Jahre anscheinend nicht geändert, nennt Charli ihr neues Album eben doch genau so: „Brat“. Das ergibt allerdings schon Sinn, denn obwohl sie heutzutage so einen hohen Status hat, ist sie weit davon entfernt, zu einer Sia oder Taylor oder gar Beyoncé zu werden: Wenn Queen Bee in den Klub geht, dann strahlt alles in Glitzer und Gold und die besten DJs der Welt legen auf – wenn Charli XCX tanzt, dann in Kellern und leer stehenden Industriehallen zwischen den Weirdos und Ausgestoßenen, um dort zu unbekannten Beats weiß der Himmel was für gottlose Sachen anzustellen. Und genau darum geht es im neuen Album: „Ich bin geboren worden, um Dance Music zu machen“, proklamiert Charli laut und voller Stolz. „Ich bin in den Klubs aufgewachsen.“ Es geht mit den neuen Tracks gewissermaßen zu ihr nach Hause, auch wenn dort mal wieder jemand sauber machen könnte. Aber daran hat irgendwie niemand Interesse, geschweige denn dafür Zeit.
Man höre nur die ersten Singles, die schon einen Vorgeschmack davon geben, wie es dort klingt, zum Beispiel „Club Classics“ und „B2B“. Beides sind chaotische, wilde Banger, die diverse Stile der elektronischen Tanzwelt durcheinanderwirbeln und sich einfach die ganzen Traditionen schnappen, um sie weit in die Zukunft zu werfen. Im Netz gehen dank „Club Classics“ sogar Vergleiche mit SOPHIE um, der viel zu früh verstorbenen, visionären Transgender-Musikproduzentin, die Grenzen immer nur als etwas zum Einreißen betrachtete. Und schon vor Monaten erschien „Von Dutch“, eine pumpende EDM-Hymne, die pure Ekstase in Sound gegossen hat und in deren Video man fast Angst hat, dass Charli gleich den Airbus A380 komplett zerlegt, auf dessen Flügeln sie tanzt. Troye Sivan glaubt, hier sogar schon den Song des Jahres 2024 gehört zu haben, aber zugegebenermaßen ist er auch voreingenommen, gehen beide doch diesen Sommer zusammen auf Tour. Und dann ist da ja noch das wilde Gerücht, dass die beiden mit Lil Nas X eine Band gründen wollen … Was wir ehrlich gesagt unbedingt erleben und hören wollen.
Auf „Brat“ jedenfalls wird Charli XCX jetzt erst einmal mit satten 15 Tracks dem staunenden Mainstream zeigen, was im Untergrund so abgeht und wie man wirklich feiert. Hier heißt es, sich zügellos und befreit von allen Hemmungen im Rhythmus und dem Wahnsinn der Produktion zu verlieren und dabei vielleicht sogar zu entdecken, dass man plötzlich selber Lust hat, völlig gottlose Sachen anzustellen. Wie eine verzogene Göre eben, die auf niemanden hört, weil sie genau weiß, was sie will. Nein, Charli XCX ist auf keinen Fall ein Role Model für jeden – aber definitiv für uns! *Christian K. L. Fischer