Wer darf eigentlich was noch sagen? Diese Frage geistert derzeit einmal mehr durch das winterliche Land und schon so manche*r gewerbsmäßige Meinungsbildner*in hat sich daran sehenden Auges die Finger verbrannt. Oft genug wird verwechselt, was man sagen kann, was man sagen darf und ob jeder etwas sagen soll – oder lieber nicht.
Der erste Teil ist einfach: Sagen kann man als Meinungsäußerung alles. Wer aber die Rechte anderer dadurch verletzt, darf das nicht. Ein Blick in die sogenannten sozialen Medien genügt, um zu erkennen, dass die meisten Menschen, die glauben, sie sollten zu einem Thema etwas beisteuern, ihre diesbezügliche Eignung überschätzen.
Fakt ist: Die Mehrheit der Menschen kennt sich mit der Mehrheit der Themen sehr wenig aus.
Und noch ein Fakt: Die Mehrheit der Menschen kennt sich mit den Themen der Minderheiten unter den Menschen sehr wenig aus. Gute öffentliche Debatten, die die pluralistische Meinungs- und folgende Entscheidungsfindungen voranbringen, entstehen aber vor allem dann, wenn sie von Personen geführt werden, die außer einer Meinung noch substanzielle Sachverhalte, neue Informationen, spezielle Erfahrungen oder seltene Perspektiven beisteuern können. Solche Leute sollten viel öfter bei sich den Mut und bei den anderen das Gehör finden, um sich zu äußern. Alle anderen dürfen sich natürlich auch mitteilen – aber vielleicht nicht immer zuerst.
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Free Speech
Meinungen gibt's wie Sand am Meer - Foto Flickr User edlf345 - Lizenz Creative Commons CC BY 2.0
Die, die keiner fragt
In einer Demokratie werden Entscheidungen von der Mehrheit getroffen und ihr Wille überragt den der Minderheit. Niemand gehört jedoch immer zur Mehr- oder Minderheit, und so befindet sich jedes Individuum in unserer Gesellschaft früher oder später einmal in der Situation, dass andere politisch über seine Belange entscheiden.
Bald erkannte man deshalb, dass es sinnvoll ist, grundsätzlich auch jene anzuhören, die in ihrer Zahl zwar nicht maßgeblich sein würden, aber doch vielleicht in dem, was sie zu sagen haben. Allerdings nicht solche, auf deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft prinzipiell weniger oder kein Wert gelegt wird: Bis heute verzichtet unsere Mehrheitsgesellschaft weitgehend darauf, bestimmte Gruppen in ihrer Mitte nach deren Meinungen, Anliegen, Bedürfnissen oder Kritikpunkten zu fragen. Formulieren die so Benachteiligten trotzdem welche, werden ihre Äußerungen oft in den Hintergrund gerückt oder als nebensächlich dargestellt.
Die Soziologie spricht dann von einer Marginalisierung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Seit gut einem halben Jahrhundert kämpfen homo- und bisexuelle Menschen nun dafür, dass ihre Lebenssituationen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr ignoriert werden. Eine wichtige Voraussetzung, um auch die strukturelle Ungleichbehandlung und Ausgrenzung in einer Sozialstruktur zu überwinden. Viele Erfolge hat es seitdem gegeben, und wenn noch längst nicht alles erreicht ist, dann doch sehr vieles. Ein Kennzeichen der „Pride“-Bewegung der frühen 1970er war es, die eigene Meinung zu sagen, ohne gefragt worden zu sein, weil es ohnehin nie jemand tun würde. Nicht, dass nicht schon vor Stonewall über gleichgeschlechtliches Begehren und Lieben gesprochen worden war. Doch viel zu oft aus einem zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Blickwinkel und in einer Art und Weise, die vieles, was für junge Queers heute selbstverständlich ist, niemals möglich gemacht hätte.
Aus den Erfahrungen und Erfolgen der LGBTIQ*-Bewegung haben auch viele andere benachteiligte Personengruppen ihre Schlüsse gezogen. Beispielsweise Menschen, die aufgrund von körperlichen oder kulturellen Fremdzuschreibungen Ausgrenzung erfahren. Es überrascht also nicht, dass auch Kinder und Enkelkinder von Einwander*innen und Flüchtlingen aus den Mittelmeerländern, Asien, Afrika und Südamerika heute daran erinnern, dass sinnstiftende Diskussionsveranstaltungen über Rassismus in Deutschland den größten Erkenntnisertrag liefern, wenn sie auch von und mit Menschen geführt werden, die rassistisches Verhalten erfahren mussten. Soll die Solidargemeinschaft, in der Menschen ohne Behinderung in der Mehrheit sind, Entscheidungen über Unterstützungen für Menschen mit Behinderung treffen, mahnen Letztere ebenfalls immer wieder: „Nur mit uns, nie über uns.“ Im gleichen Sinne hat die Trans*Community mühsam erstritten, in den Kommissionen, die über die medizinischen Leitlinien zur Behandlung von Trans*Personen entscheiden, mitsprechen zu dürfen.
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Wenn Benachteiligte Benachteiligte benachteiligen
Die eigenen Belange selbst vertreten zu können, rührt also nicht von dem Bedürfnis her, im Lichte des Vordergrunds zu stehen, sondern von der Notwendigkeit, endlich aus dem Schattendasein im Hintergrund auszubrechen. Das wiederum bedeutet, dass jene Personen, die bislang gewohnt waren, zu bestimmten Diskriminierungsfragen im Fokus zu sein, allen voran nach ihrer Meinung gefragt zu werden und jederzeit so unbefangen wie ungefragt zu kommentieren, einen Schritt zurücktreten müssen, wenn sie anderen nicht den Weg versperren wollen.
Für viele, die bislang durch ihre diskriminierungsfreien Paraderollen im großen Zirkus von Film, Fernsehen, Medien und Politik privilegiert waren, zu allem und jedem befragt zu werden, ist das eine neue Erfahrung, die bereits häufig zu der Fehlinterpretation führten, „man dürfe bestimmte Dinge nicht mehr sagen“. Noch schwieriger zu verstehen ist es für Menschen, die selbst erhebliche Diskriminierungserfahrungen machen mussten, jahrzehntelang dagegen kämpften und nun ebenfalls gebeten werden, anderen Menschen zu bestimmten Themen den Vortritt bei der Meinungsäußerung zu lassen.
Schwule fragen sich, wann sie vom ausgegrenzten homosexuellen Opfer gesellschaftlicher Gewalt zum „alten weißen Mann“ wurden; einige Feministinnen, vor allem die lebensälteren unter ihnen, die jahrzehntelang mit dem Patriarchat gerungen haben, fürchten nun die Entwertung von Weiblichkeit und Verlust von Schutzräumen angesichts der großen Aufmerksamkeit, die seit einiger Zeit trans* Frauen und ihren Bedürfnissen gewidmet wird. Vertieft wird dieses Unverständnis durch eine hemmungslos geifernde Twitter-Meute, die mit einer leichtfertigen cäsarischen Daumen-Geste in 280 Zeichen über sozialen Tod oder Weiterleben anderer Beteiligter im öffentlichen Diskurs urteilt. Sie ist mindestens genauso Teil des Problems, wie jene, die ihre Plätze in den TV-Stuhlkreisen oder Meinungsspalten der Zeitungen nicht räumen wollen und gekränkt von einem Angriff auf die Meinungsfreiheit fabulieren.
Tatsache ist aber, dass viel zu lange Fragen benachteiligter Menschen zwar mit einigem Problembewusstsein diskutiert wurden, aber wenig ergebnisorientiert und weitgehend ohne Anerkennung ihres Selbstvertretungsrechtes. Es künftig besser zu machen, ist zugegebenermaßen eine Herausforderung. Für Aktivist*innen, die im Streiten für ihre Rechte nun ihre eigene Identität und ihre Rolle, die sie bei der Ungleichbehandlung anderer einnehmen, hinterfragen müssen, für Fernsehredaktionen, die nicht mehr einfach die üblichen und auf Abruf verfügbaren Talkshow-Prominenten mit vorhersehbaren Statements einladen können, und für Kolumnist*innen, die zu bestimmten Themen nicht mehr einfach daherschreiben, sondern Sachverhalte statt nur aus dem eigenen, unbedingt auch aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachten sollten.