Foto: Sven Fleischmann
„JoVanNelsen“
Jo van Nelsen feiert in diesem Jahr sein 35-jähriges Bühnenjubiläum mit einem Programm voll „frivoler Chansons“ von Helen Vita und anderen Interpret*innen des frühen 20. Jahrhunderts. Wieso van Nelsen mit seiner Idee so lange schwanger ging und wieso er in einer Zeit von „Woke“ und neuer Prüderie ein solches Programm zusammen mit dem Pianisten Bernd Schmidt auf die Bühne bringt, erklärt er im Interview.
Wie bist du auf die Idee gekommen, ein Programm mit „frivolen Chansons“ zu machen? Die Texte sind ja mitunter ziemlich deftig …
Das neue Programm ist zu meinem 35. Bühnenjubiläum und ist gleichzeitig auch eine Hommage an Helen Vita. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, Mitte der 80er Jahre, das war einfach eine Initialzündung für mich. Sie war damals übrigens genauso alt wie ich jetzt bin. Da habe ich echt einen Rückenschauer bekommen, als ich meine alte Konzertkarte gefunden habe. Helen Vita hatte, seitdem sie die frechen Chansons aus dem alten Frankreich zwischen 1963 und 1968 aufgenommen hat, einfach einen Ruf weg: Das ist die mit den frivolen Chansons. Und sie wurde dann eigentlich nur noch so gesehen. Sie machte Kabarett, weil Bert Brecht ihr bei der gemeinsamen Uraufführung von „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ in Zürich gesagt hat: „Sie sind ein verkapptes, komisches Talent, machen Sie mal Kabarett“, und dann hat sie gesagt „aber ich kann auf der Bühne ja nicht mal lachen“, und dann sagte er: „Sie sollen ja auch nicht lachen, sondern das Publikum“. Die Anekdote hat sie gerne erzählt. Sie hat ihre Programme dann immer eröffnet mit: „Also, ich singe Ihnen heute ein bisschen Tucholsky und ein bisschen Brecht, aber die Lieder, wegen denen sie gekommen sind, die singe ich auch“. Und das mache ich zum Prinzip für meinen Abend. Wir haben jetzt etwa acht Chansons von ihr im Programm. Es gibt viele, die aus der Sicht einer Frau gesungen werden, und das mache ich jetzt mit 56 nicht mehr! Wir hatten im Erdbeermund-Programm zum 30. Bühnenjubiläum bereits drei Lieder von Helen Vita im Programm, und sind genau auf diese drei Lieder am allermeisten angesprochen worden. So entstand eigentlich die Idee.
Foto: Bernd Schmidt
„JoVanNelsen-Naked-1“
Es hat etwas gedauert, bis dein neues Programm reif für die Bühne war – was hat dich beschäftigt?
Ja, ich bin sehr lange um das Programm herumgeeiert, weil … wie soll ich‘s sagen?
Die Verletzungsgefahr ist in den letzten Jahren gewachsen. Man wird inzwischen sehr geschult, was man noch sagen darf und was nicht mehr geht. Ich finde das in großen Teilen auch sehr gut, also mit Gendern habe ich zum Beispiel überhaupt kein Problem. Aber ich finde es schwierig, wenn es um historisches Material geht. Der Hintergedanke ist jetzt nicht, dass ich nicht ernst nehme, dass zum Beispiel Eltern ihren Kindern gerne Pippi Langstrumpf vorlesen oder zum Selberlesen schenken wollen, und dass dann da eben nicht „der Negerkönig“ stehen soll. Ich habe viel mit Eltern über das Thema gesprochen und verstehe das gut. Ich bin eigentlich ein Verfechter von Vorworten und Fußnoten, aber das ist bei Literatur für Kinder nicht machbar. Was ich gut finde, ist, dass Kinderbuchverlage inzwischen beides, also die Originalfassung als auch die bereinigte Fassung, rausbringen. Mir klar geworden, dass für Kinder tatsächlich etwas anderes gelten muss. Wenn es sich aber um Erwachsenenliteratur handelt, finde ich das eine Bevormundung, die ich nicht möchte. Als Beispiel: Anne Franks Tagebuch. Die erste Fassung wurde vom Vater bereinigt, und alles, was sie an sexuellen Teenager-Fantasien reingeschrieben hatte, wurde rausgestrichen, weil das einem Publikum der 1950er Jahre nicht zuzumutbar erschien. Heute rekonstruiert man das wieder und wir regen uns total darüber auf, wie man sowas machen konnte. Und wir sind aber gerade fest dabei, es wieder zu tun! Das Schlimmste ist, dass wir dabei eine, wie ich finde, sehr amerikanische Hysterie übernehmen. Ich glaube, durch TikTok und Instagram werden bei uns Themen reingespült, die überhaupt nicht unsere sind. Nicht unsere Kultur, oder wenn, dann nur sehr peripher. Und das kann nicht sein. Wir waren in Europa schon immer weiter, gerade wenn es um Sexualität ging.
Foto: Bernd Schmidt
„JoVanNelsen-Naked-2“
Leben wir eigentlich noch in einer übersexualisierten Welt – oder sind wir schon in der neuen Prüderie angekommen?
Geschichte ist immer Wellenbewegung. Und wir sind gerade mitten in der neuen Prüderie.
Unser Programm ist daher auch ein Plädoyer für das, was das Wort „frivol“ ja im Wortsinn meint: in gewissen Themen leichter und bedenkenloser sein zu dürfen.
Ich finde, in der Sexualität ist das extrem wichtig. Das ist das, was „flow“ meint oder „fluid“ meint. Ich finde es großartig, wenn Menschen das leben können. Aber dann dieses „das darf nicht sein“ oder „du liest mich falsch“ finde ich gerade wirklich höchst bedenklich – vor allem in einer Zeit, in der die Rechten so stark werden und wir uns, insbesondere in der queeren Szene, so stark auseinanderdividieren. Es ist genau derselbe Fehler wie damals in der Weimarer Republik: Die SPD hatte sich zersplittert und dann keine Schlagkraft mehr gegen die Rechten! Es geht hier nicht um den individuellen queeren 23-jährigen in der Großstadt. Wir müssen einfach einen Zusammenschluss mit allen haben! Auf der Fahne können alle Farben der Welt sein, aber es muss klar sein, dass wir alle auf EINER Fahne sind und nicht jeder noch ein Wimpel außen dran hat. Gerade als Älterer finde ich es nicht schön, dass das, was wir doch recht schwer errungen haben, jetzt so zerfasert. Da ist gar kein historisches Bewusstsein mehr, und kein Bewusstsein dafür, was das bedeutet, was errungen wurde. Und diese Unterstellung, dass eine ganze Generation rassistisch eingestellt ist, das stimmt einfach nicht. Und ich verstehe, dass dann viele Ältere einfach auch beleidigt reagieren. In einer Diskussion über ein Kabarettprogramm wurde ich auch schon mal als „dieser weiße cis Mann da vorne“ angesprochen, wo ich als schwuler Mann extrem empfindlich reagiere. Eben gerade, weil weiße cis Männer für mich damals als junger Schwuler genau mein Feindbild gewesen sind. Und da jetzt plötzlich mit zugezählt zu werden, da hört es bei mir einfach auf.
Der Kontext wird oft überhaupt nicht mehr gesehen …
Null! Und das ist das große Problem! Und das ist nun meine Hauptaufgabe in diesem Programm, permanent diese Lieder zu kontextualisieren. Das waren alles Gründe, wieso ich beschlossen habe: jetzt mach‘ ich ein solches Programm erst recht! Aus Trotz arbeite ich immer gut (lacht).
Foto: Bernd Schmidt
„JoVanNelsen-Naked-3“
Die Texte von Helen Vita sind ja bestimmt auch von sehr traditionellen Rollenbildern geprägt …
… und das stimmt eben auch nicht! Es gibt ganz viele Lieder, wo die Frauen die Hosen anhaben. Da muss man beim Zuhören bitte etwas Geduld haben. Ich mag die Helen-Vita-Lieder vor allem so sehr, weil sie vom Text her so gut sind. Sie hat immer gesagt, die französischen Originale sind zwar schweinischer als das Deutsche, aber wie Walter Brandin das textlich umgesetzt hat, ist einfach brillant. Ich selbst komme ja immer vom Text:. Schöne Melodie, ja ok, aber wenn der Text nicht gut ist, dann mache ich das Lied nicht. Und mein Trotz ist eben, zu sagen, das ist im Moment vielleicht nicht P.C., aber ich fände es höchst bitter, wenn etwas von so einer literarischen Qualität untergeht oder vergessen wird. Ich weiß gar nicht mehr, wo es noch möglich sein soll, mit Satire, Ironie und dem Spiel bestehen zu können, wenn nicht im Kabarett? Das war von jeher der Ort dafür, auch der Ort für Tabubruch und Diskurs. Und das Programm ist eben auch die Geschichte von Zensur in Deutschland. Das ist der große Kontext, in den ich es stelle. Seitdem es Kabarett gibt, war die Zensur da.
Du bist ja selbst Opfer von Zensur geworden, mit dem „Erdbeermund“ …
Ja, das stimmt. Im Bayerischen Rundfunk durfte der Song nicht vor 22 Uhr im Radio laufen, andere Sender zogen nach und wir wurden dann sogar aus der ZDF-Hitparade wieder ausgeladen. Kabarettisten wie Otto Reutter mussten zu ihrer Zeit die Texte einreichen, bevor sie aufgeführt werden konnten. Dann wurde in der einen Stadt mal das gestrichen, dann wieder etwas anderes. Reutter hat an den Stellen, die beanstandet wurden, sich dann teilweise einfach geräuspert oder er hat geschmunzelt. In den Randnotizen zu den gestrichenen Textstellen hieß es dann daraufhin: „Diese Stelle darf weder gesungen noch geräuspert noch geschmunzelt werden“. Er hat sich da aber immer gut rauslaviert. Die Platten von Helen Vita sind 27-mal verboten worden, die Verbote wurden meist in zweiter Instanz wieder aufgehoben. In unserem Programm bringen wir auch solche originalen Ablehnungen von Liedtexten. Die größere Aufregung ist da eigentlich die Begründung der Ablehnung.
Foto: Dominik Reichenbach
„JovanNelsenSchmidt
Jo van Nelsen mit seinem Pianisten Bernd Schmidt
Du nennst dich ja auch „Kabaretthistoriker“ – hast du dir den Titel selbst ausgedacht?
Ich bin es einfach. Es gibt einfach ganz wenige, die sich heute noch in der deutschen Kabarett-Geschichte auskennen. Und ich arbeite jetzt schon so lange und eigentlich immer kabarett-historisch, da dachte ich, dann kann man das auch mal benennen. Das Deutsche Kabarett Archiv unterstützt mich da wahnsinnig. Wir machen jetzt tatsächlich eine Uraufführung, ein Lied, das über 100 Jahre nicht mehr aufgeführt wurde, weil die Originalinterpretin 1919 verstorben ist und es seitdem wohl nicht mehr gesungen wurde. Da geht’s im Übrigen auch um Zensur in einem Goethe Text.
Wie stehst du zum Begriff „Entertainment“?
Ich habe mich von Anfang an als Entertainer bezeichnet. Was ich schade finde, ist, dass die meisten denken, Entertainment sei oberflächlich und blöd. Aber zum Beispiel bei meinen Grammophon-Lesungen wird es sehr deutlich, dass der Inhalt oft ziemlich intellektuell ist, die Verpackung aber mit der PowerPoint-Präsentation, durch die Musik, durch das Haptische und das Grammophon ausgesprochen unterhaltsam ist. Das finde ich, ist die Grundstruktur von Entertainment: die wichtigen Themen mit Zuckerguss verkaufen. Die Zyankalikapsel in der Torte. Und das kann ich gut, ich bin ein guter Dramaturg. Und das haben wir eben auch in diesem Programm: Es sind nicht nur lustige Sachen, sondern auch welche mit Gehalt und auch durchaus politisch.
„Blick zurück durchs Schlüsselloch – Frivole Chansons zwischen Liebeslust und Paragrafenfrust“ von Jo van Nelsen, mit dem Pianisten Bernd Schmidt, Premiere am 13.9., Die Käs, Waldschmidtstr. 19, Frankfurt, 20 Uhr, weitere Termine über www.jovannelsen.de
Interview: Björn Berndt