Nach Vollendung des 18. Lebensjahres ist man bei uns volljährig. Mit einem Mal darf man berauschend viel mehr tun und lassen als noch wenige Tage vor diesem Stichtag. Über Nacht hat man auch die Pflicht zur eigenen Fürsorge ererbt, die bislang bei den Eltern lag. Sich um einen Menschen zu kümmern, ist jedoch eine große Herausforderung und keineswegs allen in die Wiege gelegt. Auch nicht die Sorge für sich selbst. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Aufsicht über eine vernünftige Ernährung, pünktliches morgendliches Aufstehen, den Kontostand und das regelmäßige Anlegen frischer Unterwäsche. Wer hier versagt, bekommt es recht schnell von seiner Umgebung mitgeteilt.
Wichtiger ist die Verantwortung für eigene Ressourcen, die sich kaum messen lassen, sodass ihr erhöhter Verbrauch oft erst bemerkt wird, wenn schon die Reserven verbraucht sind. Nicht nur die monatlichen Geldmittel wollen sorgsam eingeteilt werden; auch die Zeit für uns selbst, das Maß an Aufmerksamkeit für unsere Umwelt, die Distanz und Nähe zu anderen Menschen und die Kraft unseres Engagements sind endlich und sollten deshalb regelmäßig auf ihren Füllstand geprüft werden. Denn wenn unser inneres Räderwerk trocken läuft, nimmt der Verschleiß erheblich zu, und bevor man merkt, dass es im Seelengetriebe knirscht, kommt schlagartig der Stillstand. Die Selbstreparatur dauert dann lange, ist wiederum ressourcenintensiv und manchmal nicht ohne fremde Hilfe zu schaffen. Nicht nur anderen, sondern auch sich selbst etwas Gutes zu gönnen, ist also nicht nur eine pflichtgemäße Wartungsarbeit, sondern eine lohnende Investition in uns selbst.
Foto: Flickr Nutzer Dimitris Tzortzis/ CC BY SA 2.0
Entspannung
Man braucht auch mal Zeit für sich - Foto: Flickr User Dimitris Tzortzis Lizenz CC BY SA 2.0
Die Stunde flieht
Wer glaubt, der eigene Tag habe 24 Stunden, wird über die Tatsachen genauso schmerzhaft aufgeklärt wie derjenige, der sein Bruttogehalt ausgegeben hat. Zieht man von der eigenen verfügbar geglaubten Freizeit alle zeitlichen Unkosten, Abschläge, Gebühren und Provisionen ab, die Alltag und Mitmenschen von uns einfordern, ist am Ende immer deutlich weniger übrig als erwartet. Die Verbindlichkeiten anderen gegenüber sind meist zwingend einzuhalten, denn als unzuverlässig zu gelten, hemmt sowohl das private als auch das berufliche Fortkommen. Zeit einsparen kann man also höchstens bei sich selbst. Mit einem weniger als mindestens halb aufgeladenen Smartphone aus dem Haus zu gehen, gilt in unserer Zeit gemeinhin als riskantes Verhalten. Als Mensch stürzt man sich dagegen oft auch dann noch mal ins Getümmel, wenn schon längst der persönliche Energiesparmodus angezeigt wird und einige benötigte Funktionen gar nicht mehr ausgeführt werden können. Wie ausgeglichen könnte man sein, wenn man sich zusätzlich zur nächtlichen Schlafenszeit so viel Muße einräumte, wie man Laptop, Tablet und Smartphone Ladezeit gibt? Vor allem dann, wenn man sie währenddessen nicht benutzt.
Alles ist wichtig
Wie oft am Tag ist es sinnvoll, sich über die tagesaktuelle 7-Tage-Inzidenz zu informieren? Jede Antwort größer eins ist irrational, und trotzdem lassen wir zu, dass uns die Zahlen zu den Corona-Neuinfektionen seit zwei Jahren so häufig um die Ohren wehen wie „Last Christmas“ im Advent. In der Informationsgesellschaft wird ein großer Teil unserer Aufmerksamkeit von überall und jederzeit auf uns einprasselnden Meldungen beansprucht, die zwar Nachrichten sind, aber selten Neuigkeiten. Aufgeschlossenheit und das Vermögen, neue Fakten aufzunehmen individuell zu bewerten und zu verarbeiten, sind jedoch nicht beliebig verfügbar. Die Ticker-Meldungen laufen dagegen in Endlosschleife und stehen in Konkurrenz zum routinemäßigen Mails-Checken, der Mitgliedschaft in mehreren Whatsapp-Gruppen, Storys und Timelines mehrerer Kanäle der sozialen Medien und den althergebrachten Lebensäußerungen der echten Menschen in unserer Umgebung. Um in der Reizüberflutung nicht unterzugehen, muss die Aufmerksamkeitsspanne, die der einzelnen Information gewidmet wird, auf das Notwendigste verkürzt werden. Scannen, weiterscrollen, scannen, weiterscrollen und mehr als eine Textzeile ist schon „too much information“. Ständig bewerten zu müssen, welche der angebotenen Bilder, Texte und Videos für uns wichtig sind, nimmt so viel unserer Aufmerksamkeit in Anspruch, dass wir die wirklich relevanten gar nicht mehr finden, weil wir schon vorher oft neuerlich abgelenkt werden. Die Entscheidung, worauf man die eigene Neugier richten möchte, sollte also schon getroffen werden, bevor die Schleusentore der Medienkanäle geöffnet werden und die Info-Flut ungebremst über uns zusammenschlägt. Was möchte ich wissen? Worauf möchte ich meine Aufmerksamkeit richten? Womit möchte ich mich auseinandersetzen? Was dann noch übrig ist, kann man den endlosen Instagram-Reels zum Fraß vorwerfen.
Foto: Creative Christians, uns-lash.com, gemeinfrei
Entspannung
Mind the gap
Abstand halten ist die Losung der vergangenen zwei Jahre. Vor allem, damit wir nicht in der Aerosol-Wolke unseres Nächsten weilen und dort eventuell Coronaviren einatmen. Die Distanz ist hier also körperlich zu verstehen. Doch auch die geistige Nähe zu anderen Menschen und ihren Problemen kann auf die Dauer entzündlich wirken. Vor allem dann, wenn uns die Sorgen-Wolke anderer so sehr umfängt, dass wir ihre Nöte inhalieren und sie zu unseren eignen machen. Risikogruppe hierfür sind vor allem diejenigen, die sich mit Herzblut für andere einsetzen. Soziales, gemeinschaftliches Engagement ist in unserer Gesellschaft weiter verbreitet und tiefer verwurzelt, als man glauben mag, sodass die Zahl der potenziell Betroffenen unüberschaubar ist. Sie unterstützen in aller Regel ehrenamtlich und ohne formelle Strukturen, die zusätzlich Unterstützung geben oder Niederlagen und Enttäuschungen professionell abfedern könnten. Oft läuft das Fass schon eine ganze Weile über, bis die Helfer*innen wahrnehmen, dass sie überfordert sind oder gar ausgenutzt wurden und sie sich in der Folge abrupt und grundsätzlich von jedem weiteren Engagement abwenden. Ein herber Verlust, denn von solchen Menschen lebt unser Sozialwesen. Ob im Kleingartenverein oder als Supporter*in queerer Geflüchteter – nur wer stetig reflektiert, wie viel der Aufgaben und Probleme tatsächlich die eigenen sind, vermeidet Überidentifikation und eskalierende Belastungen, die schließlich in die Unfähigkeit zu helfen münden.
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut
Wer sich um andere kümmern kann, ist nobel und hat offenbar die Probleme des Menschen, um den er sich sorgt, nicht oder hat sie selbst bereits überwunden, sodass er diese Lösungsstrategien weiterreichen kann. Niemand muss aber ganz sorgenfrei sein, um sich für andere und ihre Bedürfnisse einzusetzen. Dabei muss jedoch immer klar sein: Durch das Bearbeiten der Probleme anderer gehen die eigenen nicht weg und es entsteht umgekehrt auch kein Anspruch, selbst Hilfe zu erfahren. Engagement verbraucht darüber hinaus Energie, die wir nicht nur dafür abfließen lassen dürfen, sondern immer ausreichend davon für uns selbst rückstauen sollten. Die Sorge um uns selbst ist nämlich nicht bloß Wellness. Sie ist die Grundvoraussetzung, um über uns hinauswachsen zu können, Dinge zu tun, die über die eigenen Bedürfnisse hinausreichen, mehr Kraft zu mobilisieren, als wir für uns selbst brauchen und über manche Strecken auch freihändig unterwegs zu sein, um anderen die Hand zu reichen.