Ist queer sein in? Um diese Frage zu beantworten wäre zunächst zu klären, was queer bedeutet. Um das zu leisten, müsste diese Kolumnenspalte jedoch mehrere Meter nach unten verlängert werden.
Die Lebensrealität zeigt jedenfalls, dass queer und LGBTIQ* nicht zwangsläufig deckungsgleich sein müssen. Beispielsweise haben viele Schwule, Lesben und transidente Menschen für sich einen Lebensentwurf gewählt, der von Queerness im Sinne der Wortbedeutung (leben und lieben jenseits der Mehrheitsgesellschaft) deutlich entfernt liegt. Anderseits leben und lieben viele Menschen sehr anders als die Mehrheitsgesellschaft, durchkreuzen Normen, stehen aber dennoch fest auf dem Boden von Heterosexualität und Cisgeschlechtlichkeit. Zu LGBTIQ* zählen sie genau genommen also nicht. Queer sind sie aber ohne Frage.
Foto: Flickr Nutzer Fred Romero/CC BY 2.0
David Bowie
Definitiv queer: David Bowie - Foto: Flickr User Fred Romero Lizenz Creative Commons CC BY 2.0
Dass sich die Popkultur aus dem Fundus lesbischer, schwuler und trans* Ausdrucksformen bedient, ist bekanntlich nichts Neues. In den 70er und 80er Jahren waren viele internationale Pop-Stars von Transvestiten aus dem Cabaret kaum zu unterscheiden.
Der Bigotterie in der Musikindustrie tat das freilich keinen Abbruch. Denn während sie für die Inszenierung ihrer Protegés reichlich aus der LGBTIQ*-Ikonographie schöpfte, bedeutete ein homosexuelles Outing gleichzeitig trotzdem das Karriereende.
Die Aneignung von LGBTIQ*-Subkultur aus Marketing-Motiven muss man deswegen immer auch kritisch hinterfragen.
LGBTIQ*-Netzwerke als Gütesiegel
Wertvoll ist es, wenn Mitarbeiter*innen in ihren Unternehmen LGBTIQ*-Netzwerke gründen, in denen sie zusammen mit anderen an einem Wandel der Unternehmenskulturen hin zu mehr Akzeptanz und Vielfalt arbeiten. Ihr Bestehen ist ein Gütesiegel für die Firmen. Auch die Unternehmen profitieren von der Erkenntnis, dass sie im Branchen-Wettbewerb um die qualifiziertesten Mitarbeiter*innen und die klügsten Köpfe in ihren eigenen Management-Ebenen keine Denkweisen der 50er Jahre mehr dulden dürfen. Stattdessen müssen sie explizit ihre Offenheit gegenüber queeren Menschen deutlich machen.
Auch schnöde betriebswirtschaftliche Erwägungen spielen hier eine Rolle, denn: „Menschen die Angst haben, können niemals ihr bestes geben.“ So sagte es Inga Beale, die erste Frau an der Spitze des Versicherungsriesen Lloyd’s of London, die sich 2008 während eines Vorstellungsgespräches als bisexuell outete auf einer Veranstaltung der Stiftung PROUT AT WORK.
Für die Frau, die zu den internationalen Top-LGBT*IQ-Führungspersönlichkeiten zählt, gibt es Parallelen zwischen Business und Sport. Für sie haben Personalfragen im sportlichen Wettstreit viel mit dem Umgang mit Mitarbeitern im Wettbewerb der Geschäftswelt zu tun: „Ist die Akzeptanz im Business tatsächlich so viel besser als im Sport?“
Diese Fragestellung sagt viel über die Akzeptanz von LGBTIQ* im internationalen Business. Denn bekanntermaßen ist Homo- und Transphobie in vielen Bereichen des Sports weit verbreitet.
Outing als Karrierekiller
Deshalb ist es wichtig, dass der neue Mr. Gay Germany, Benjamin Näßler, seinen Titel für die Förderung von Akzeptanz von Homosexuellen im Fußball nutzen will. Denn während die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten insgesamt deutlich offener gegenüber LGBTIQ* geworden ist, hinkt der Sport als Facette der Gesamtgesellschaft in vielen Disziplinen weit hinterher.
Einiges funktioniert in der Sportkultur besser: die Integration von Migrant*innen und Geflüchteten zum Beispiel. Die Paralympics als Sportfest der Menschen mit Behinderung werden im Fernsehen übertragen.
In anderen Zusammenhängen steht sie weit hinter der gesellschaftlichen Entwicklung zurück. Niederschmetternd ist, dass hier der deutsche und internationale Herrenfußball besonders rückständig ist. Denn er hat die größte Aussagekraft, weil hier mit Abstand die größten Zuschauerzahlen hat, das meiste Geld verdient und umgesetzt wird und er die größte Öffentlichkeitswirkung hat.
Mehr als 7,1 Millionen Menschen waren im Jahr 2019 Mitglied als Mitglied im Deutschen Fußball-Bund gemeldet.
Trotzdem gibt es keinen geouteten aktiven schwulen Fußballspieler.
Eine Gegensätzlichkeit, die für sich spricht.
Homophobe Sprechchöre unter der Regenbogenflagge
Seit Thomas Hitzlsperger, der sich vor sechs Jahren nach seinem Karriereende als homosexuell outete, wissen wir, was wir schon immer wussten: Es gibt schwule Fußballer.
In keinem Sport küssen sich verschwitzte Männer so häufig vor zehntausendköpfigem Publikum. Allerdings erst, nachdem einer von ihnen ein Tor geschossen hat. Die Superstars dürfen zupfen Augenbrauen und tragen auch schon mal Nagellack.
Vor dem DFB-Hauptquartier weht die Regenbogenfahne und die Notwendigkeit, für mehr Akzeptanz von LGBTIQ* im Fußball zu arbeiten, scheint auf der Führungsebene des Spitzenverbandes angekommen. Schon längst gibt es auch lesbisch-schwule Fanclubs und in den Stadien regenbogenfarbige Symbolaktionen gegen Homophobie.
Gleichzeitig beobachten Studien, dass es wieder schwulenfeindliche Banner und Sprüche bei den Spielen gebe. Auch Spielunterbrechungen wegen homophober Fangesänge kommen im europäischen Spitzenfußball vor.
Immerhin, denn bis vor wenigen Jahren galten sie noch als legitime Geräuschkulisse während des Spiels.
Im Frauenfußball spielen in Bundesligavereinen und auch in der Nationalmannschaft selbstverständlich offen lesbisch lebende und liebende Profis.
Dass bei einem Spiel des Frauen-Fußball-Club Frankfurt (FFC) lesbenfeindliches Gepöbel toleriert würde, ist so unvorstellbar wie das Outing eines aktiven schwulen Bundesligaspielers im Jahr 2020.
Eine Ungleichzeitigkeit, die wiederum für sich spricht.