Während einer Reise auf den Philippinen fuhr ich mit dem Fahrrad in der Altstadt von Manila an einem schwulen Touristenpärchen vorbei, von dem einer in Yoga-Pose verharrte, bei der er seine Gliedmaßen um sich selbst wickelte. Sein Partner fotografierte ihn. Hier wurde offenkundig ein weiteres Selbstbildnis für Instagram verfertigt.
Bild: KI
Mann in Yoga-Pose
KI-Kunst
Einige Tage später beobachtete ich tausend Kilometer entfernt an einem herrlichen Badestrand eine Brasilianerin bei ähnlich skurrilem Verhalten. Gesegnet mit Proportionen, wie sie dem Schöpfer nur gelingen, wenn Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen, schaufelte die Urlauberin unablässig mit ausgestreckten Armen Wasser über ihren Kopf. Ihre Freundin knipste sie geduldig mit dem Smartphone in der Hoffnung, dass bald das eine Bild entstehe, in dem ein makelloser Wasserbogen um das Modell erscheint. Sicherlich war diese Frau in den sozialen Medien mit ihrem Körper ein Vorbild für Hunderttausende und würde mich mit Schnorchel und Taucherbrille kurzerhand aus dem Hintergrund dieser Inszenierung rausretuschieren. Ich war geneigt, sie anzusprechen und mit den Worten Thomas Manns zu fragen, ob ihr bewusst sei, dass der Körper nur ein Vorhang sei, der uns von der Ewigkeit trennt. In dem Moment wurde ich von diesem Gedanken selbst so angefasst, dass ich stattdessen grübelnd davonschnorchelte.
Acht Milliarden
Mehr als acht Milliarden Menschen leben derzeit auf unserer Erde. Eine Zahl, die in der Selbstwertkalkulation des Einzelnen in Bedeutungslosigkeit resultiert. Um die Last dieser Irrelevanz zu ertragen, verankern wir uns in einem Glaubenssystem, das wir Kultur nennen.
Bild: KI
Frau im Wasserkreis
Mithilfe von KI erstellt
Es begann mit Kohlezeichnungen auf Höhlenwänden und führte über den behauenen Marmor der Antike bis in unsere Gegenwart. Heute haben Smartphones und soziale Medien unsere Ausdrucksmöglichkeiten demokratisiert und gleichzeitig banalisiert.
Mensch gegen Maschine
Das zurückliegende Jahr könnte jedoch das letzte gewesen sein, in dem den Inszenierungen des um sich selbst gewickelten Yoga-Artisten und des Pobacken-Wunders im Wasserbogen noch eine individuelle Einzigartigkeit innewohnte. Bislang konnten ihre Bildschöpfungen nur mit ihnen selbst entstehen. Das wird in Zukunft nicht so sein. Mithilfe weniger Klicks in Anwendungen der sogenannten künstlichen Intelligenz braucht es künftig weder üppige Kurven, Gelenkigkeit noch die Menschen selbst, um diese Bilder nicht nur von ihnen, sondern von jedem zu erzeugen. Für die Inszenierungsprofis in Hollywood ist diese Zukunft schon Wirklichkeit. Monatelang streikten sie, um in ihrer Industrie Wertmaßstäbe durchzusetzen, die an diese neuen Technologien angepasst sind. Auch wir sollten in unserem Alltag kritischer werden: noch weniger für bare Münze nehmen, was uns Medienkanäle vorsetzen, und das eigene Selbstwertempfinden nicht länger aus dem Vergleich mit einer digitalen Konkurrenz ableiten, die unschlagbar, weil unecht geworden ist.