„Küsschen, Küsschen!“ – „Lieber nicht.“ Es muss schon viel passieren, damit auf das Begrüßungsritual der schwulen Szene landauf, landab verzichtet wird. Ein Fledermausvirus, das sich auf einem Lebensmittelmarkt in der chinesischen Provinz den Menschen als neuen Wirt aussuchte, hat es dennoch geschafft.
Nicht, dass wir nicht auch vorher schon in die Ellenbeuge gehustet und geniest hätten. Nur halt oft nicht in die eigene. Aber während weite Teile der Bevölkerung Klopapier horten und aus Angst vor dem Hungertod in Quarantäne notgedrungen sogar die bislang verschmähten Vollkornnudeln aufkaufen, zeigt sich die Szene vollkommen unpanisch. Das mag damit zusammen hängen, dass die Selbstbezeichnung „gay“ (lebenslustig, unbekümmert) nicht von ungefähr kommt.
Wer sich der schwulen Geschichte der letzten vier Jahrzehnte bewusst ist, kann angesichts der derzeitigen Infektionswelle, deren Erkrankung zwar manchmal auch tödlich ausgehen kann, aber meistens kaum anders als Schnupfen verläuft, nur müde lächeln. Denn es ist den meisten unvergessen, dass man zu manchen Zeiten wöchentlich an Aids verstorbene Freunde zu Grabe tragen musste. Als man nicht wusste, wie man sich genau vor dem HI-Virus schützen konnte und wie man der unbehandelt tödlich verlaufenden Infektion entgegentreten sollte. Heute ist dagegen mit einfachem Händewaschen die Gefahr weitgehend gebannt. Wer dann noch eineinhalb Meter Abstand zu seinem Nächsten hält, ist erst recht auf der sicheren Seite.
Anfangs war das noch die Lehrmeinung der Virologen, die durch die Sondersendungen flimmerten. Seitdem wissen wir, dass nichts so alt ist wie die epidemiologische Lageeinschätzung von vor einer Stunde.
Beispielsweise taten wir uns schwer, das Frühlingsfest der Frankfurter AIDS-Hilfe abzusagen, entschlossen uns aber neun Tage vor dem Termin dann doch, es zu verschieben. Zum Glück, denn schon eine Woche später wären wir mit dem Festhalten an der Veranstaltung als Gefährder im Sinne des Infektionsschutzes betrachtet worden. Einen Tag nach dem Veranstaltungstermin wurden überdies Versammlungen von mehr als fünf Personen untersagt.
Seitdem ist es unabsehbar, wie sich unser Lebensalltag von Woche zu Woche ändern wird, was „danach“ ist und vor allem: wann „danach“ ist. Jedes Wort darüber ist vergebens, denn jede Zeile wird gleich wieder von der Wirklichkeit überholt und ich schriebe hier mehr, als ich bis zum Ende des Monats verantworten könnte.
Corona-Virus vs. Krone der Schöpfung
Nach- und werthaltiger ist es deshalb, in Augenschein zu nehmen, was die Maßnahmen gegen das Corona/COVID-19-Virus im Kontext queeren Lebens bedeuten, und die Tatsachen zu benennen, die auch in Wochen und Monaten noch Gültigkeit haben werden.
Zuallererst: „Community“ ist das Gegenteil von der zur Pandemieeindämmung angezeigten Vereinzelung, die der gesunde Menschenverstand gebietet und die die Regierung mit sizilianischem Nachdruck verlangt. Denn: Die Community ist für viele LGBTIQ* der unbestimmte, aber notwendige Identifikationsort. Gleich ob im Internet, bei einer queeren Kulturveranstaltung, einem Selbsthilfegruppentreffen oder in einer Szenekneipe, die Community ist nachgerade der psychosoziale Luftkurort für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Hier erfährt man in aller Regel die größtmögliche Akzeptanz, und das Anderssein wird zum Sosein.
Der abrupte Verlust dieser Gelegenheiten ist deshalb nicht nur schade, sondern bedrohlich. Denn weit vor Corona und auch vor HIV, inklusive dem Reigen der anderen sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten, ist die unter LGBTIQ* endemische und am weitesten verbreitete Geißel die Einsamkeit. Oft in Begleitung ihrer grau verschleierten Schwester, der Depression.
Community und Szene sind Räume, nach denen LGBTIQ* vielfach ihr Leben ausgerichtet haben. Sie sind in die Städte gezogen, weil es sie dort gibt, und viele haben sich auf ihren Pulsschlag eingelassen wie Fischer auf die Gezeiten.
Klar, die Orte queerer Gemeinschaft bedeuten auch Vergnügen, Geselligkeit und Zeitvertreib. Sie erfüllen nicht nur die Funktion wohlmeinender sozialer Kontrolle, sondern sind auch der Abholpunkt für die spezifischen Hilfsangebote, die sich besonders an LGBTIQ* richten. Nirgendwo kann man die Menschen gezielter auf die Notwendigkeit von Prävention und Selbstfürsorge ansprechen, Gespräch und Trost anbieten.
Der Bedarf daran besteht auch im Pandemiefall weiter. Schwules Leben gab es während der Nazizeit, unter dem Paragrafen 175 und in Zeiten von unbehandelbarem Aids. Die Corona-Krise wird das nicht ändern. Bloß sind nun viele seiner wohltuenden, bereichernden Lebensbahnen vorläufig in den Dämmerschlaf versetzt.
Wat fott es, es fott
Die Sorge ist groß und sehr wohl berechtigt, dass die einstweilige Betäubung eine dauerhafte Lähmung als Folgeschaden zurücklassen könnte.
Foto: flickr Nutzer torbakhopper/CC BY ND 2.0/Scott Richard
Burn down the disco
Wat fott es, es fott - Foto: Flickr User torbakhopper Lizenz Creative Commons CC BY ND 2.0 - Cartoon von Scott Richard
So wie die Menschen ihre Räume brauchen, brauchen die Räume ihre Menschen. Die Szenebetriebe, die in Zeiten von Grindr & Co. ohnehin seit Jahren von der Hand in den Mund leben, können ohne ihr Publikum nur wenige Wochen überstehen, bevor sie in die Zahlungsunfähigkeit geraten. Für nicht wenige wird es das Aus bedeuten, wobei diesbezüglich auch außerhalb des Rheinlandes Paragraf 4 des Kölschen Grundgesetzes gelten wird: Wat fott es, es fott (Was weg ist, ist weg).
Die Hoffnung, dass der Markt es regeln werde und dort, wo nur genug Nachfrage herrscht, bald auch Angebote entstehen, ist ignorant, denn sie setzt voraus, dass es eine ausreichend große Zahl an potenziellen Anbietern gibt. In Wahrheit lassen sich nur noch wenige auf das wirtschaftliche Abenteuer ein, eine Szenelokalität zu betreiben.
Für diese Menschen bedeutet die Corona-Krise nun die Existenz-Krise. Diejenigen, die sie mit Krediten überstehen, werden unter den bisherigen Vorzeichen in absehbarer Zeit kaum wieder in die schwarzen Zahlen kommen.
In der Zeit „danach“ ist es deshalb wichtig, Solidarität zu zeigen. Das ist nicht zu viel verlangt, wenn es bedeutet, noch großzügiger an Orte zu gehen, die für Festivität, Geselligkeit und Becherklang stehen.
Denn wenn wir Menschen diese Räume brauchen, dann brauchen wir auch die Menschen, die diese Räume möglich machen.