Es war mehr als Schall und Rauch, als im Jahr 1815 der Tambora im heutigen Indonesien ausbrach, 150 Kubikkilometer schwefelige Asche hoch in die Atmosphäre schleuderte, die sich in der Folge als schmutziger Aerosol-Schleier rund um den ganzen Erdball legte und das darauf folgende Jahr 1816 in der Geschichtsschreibung zum „Jahr ohne Sommer“ mit kaltem Wetter und Missernten werden ließ. Dem Sommer im Corona-Jahr 2020 kann man meteorologisch hingegen kaum Vorwürfe machen. Dürre herrschte jedoch in gesellschaftlichen Lebensbereichen, deren Verfügbarkeit wir bis dahin als selbstverständlich angesehen hatten.
Der monatelange Shutdown von Kunst, Konzert und Bühnenspiel bescherte uns weitgehend einen „Sommer ohne Kultur“, wie niemand von uns ihn bisher gekannt hatte. Dort, wo es möglich ist, unternehmen Künstler*innen nun wieder erste zaghafte Gehversuche, um ihrem Publikum ihr Schaffen und Können zu zeigen. Allein die Organisation von Kulturveranstaltungen setzt dabei schon viel Kreativität voraus. Ohne Frage werden die kulturellen Events der kommenden Monate ungewohnt und umständlich erscheinen und wir sollten uns klar sein, dass sie nicht um der mageren staatlichen Alimentation willen stattfinden, sondern für den Applaus und Zuspruch des Publikums. So treu wie unsere Künstler*innen uns sind, sollten wir deshalb auch ihnen bleiben.
Einer anderen Branche wären wir so gerne ergeben geblieben, aber auch hier setzten die Covid-19-Reglementierungen unserer Loyalität zum Reisegewerbe enge Grenzen. Dieses Jahr wird mutmaßlich auch ein Jahr ohne Reisen gewesen sein. Zwar sind der eine oder andere Städtetrip und auch eine Flugreise ins europäische Ausland drin, doch im Großen und Ganzen teilen sich Land und Strand seit März in Risikogebiete und Nicht-Risikogebiete, wobei die Zuordnung täglich wechseln kann. Ehe man sichs versieht, ist die vorige Woche noch vernünftige Urlaubsdestination bereits während des Aufenthaltes zur Gefahrenzone geworden. „Wie konntest du nur“, moniert dann zu Hause der Freundeskreis, und zur Strafe bekommt man schon an der Grenze ein Wattestäbchen tiefer in die Nase gesteckt, als einem lieb ist. Umstände, die der Reisebranche insgesamt und der schwulen Reisekultur im Besonderen schaden. Vor allem für viele schwule Männer ist nämlich der jährliche Besuch einschlägig bekannter Kanaren-Inseln und mediterraner Strandpromenaden mit Regenbogenbeflaggung fest im Kalender verankert. Gleichzeitig sind sie eine der Hauptzielgruppen am Fernreisemarkt. Nun sind weder das Bar-Hopping auf Gran Canaria noch das Schnorcheln auf den Malediven lebensnotwendig, weswegen wir uns zwar gegenseitig bemitleiden, aber nicht ernsthaft beklagen dürfen.
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Corona-Test
Strafe für schlechte Urlaubsplanung - Foto: Flickr User The National Guard Lizenz: Creative Commons CC BY 2.0
Bange ist mir dagegen um die Zukunft der vielen Menschen aus unserer Community, die in der Reiseindustrie, namentlich der Luftfahrtbranche, beschäftigt sind. Viele meiner Bekannten in der fliegenden Zunft können die Flüge, die sie im letzten halben Jahr bestritten haben, beinahe an einer Hand abzählen. Wie es für sie weitergeht, ist ungewiss. Kaum noch erinnern kann ich mich, wann das letzte Mal eine gut gelaunte Equipage einer fremdländischen Fluglinie in eine unserer Frankfurter Szene-Bars eingefallen ist. Die launigen, polyglotten Abende mit neuen Perspektiven und bereichernden Begegnungen, die der Frankfurter Flughafen als Drehkreuz und die besucherstarken Messen ermöglichen und damit die Frankfurter Szene zu einer besonders weltzugewandten machen, sind rar geworden. Unsere Welt ist derzeit etwas kleiner geworden. Manch einer fühlt sich gar ein wenig an den Abzug der US-Streitkräfte erinnert, deren Anwesenheit bis dahin ebenfalls einen großen Beitrag zur gleichgeschlechtlichen deutsch-amerikanischen Freundschaft geleistet hatte.
Doch das Fernbleiben vieler befruchtender Einflüsse von außen hat auch sein Gutes. Denn so können wir unsere Szene genauer betrachten und auf ihre Eigenständigkeit und Vitalität hin überprüfen. Quasi unter Laborbedingungen fassen wir sie fest ins Auge und stellen fest: Ja, sie lebt! Darin unterscheidet sich die Frankfurter Szene wohltuend von anderen queeren Szenen beispielsweise in manchen Mittelmeer-Städten oder US-Metropolen, die wir häufig als Eldorado wahrnehmen. Auf sich allein gestellt und ohne die Massen an LGBTIQ*-Tourist*innen wirken sie jedoch oft trostlos, verknöchert und kahl und ähneln eher einem abgestorbenen Korallenriff. Das queere Biotop in Frankfurt präsentiert sich hingegen noch immer in schwelgerischer Farbenpracht und seinen vielen Spielarten von Leben und Lieben.