Kann die Szene Heimat sein? Eine Frage, die mich einmal mehr umtreibt, seit ich unlängst im Büro eines Kollegen eines Plakates der Deutschen Aidshilfe aus dem Jahr 2004 gewahr wurde, das ebendiese Frage stellt. Über Jahrzehnte rief der Begriff „Heimat“ hierzulande Assoziationen mit Schwarzwälder Bollenhut und Trachtenjankerl hervor, die als Stilmittel in sonntagnachmittäglich ausgestrahlten Heimatfilmen häufige Garderobe waren. In ihrer Zeit waren diese Formate erfolgreich, weil sie idyllische Gegenbilder zur Nachkriegsrealität zerstörter Familien und den Erfahrungen von Flucht und Vertreibung boten. Denn die inszenierten Filmwelten waren geprägt von Sehnsuchtsstoffen wie Liebe, Familie und Freundschaft. Themen, die in übertragener Weise auch die queere Szene ausmachen. Selbstverständlich ergänzt um ein ordentliches Maß Ausschweifung und Sex, die in den Kulissenlandschaften der 1950er-Jahre noch unausgesprochen bleiben mussten. Zum Leben gehören sie in Wahrheit aber im vorgeblich heilen Bergpanorama genauso wie in der schummrigen Szenekneipe. Mit allen individuellen Niederlagen, Verwerfungen und Verletzungen, die sie mit sich bringen können. Das Plakat, das mir ins Auge fiel, empfiehlt deshalb „Aufmerksamkeit statt Nicht(be)achtung“. Denn auch die Szene ist nie eine heile Welt.
Wo ist Heimat?
Das Genre des Heimatfilms wandelte sich im Laufe der 1970er-Jahre und thematisierte zunehmend drastische Lebensrealitäten, biografische Brüche und zerrüttete Beziehungen. Krimis mit abseitigen und bisweilen bizarren Verbrechen an Schauplätzen eigentlich pittoresker Landidylle sind heute längst ebenso Publikumsschlager wie ihre literarische Entsprechung im Heimatkrimi. Gleichzeitig nähern sich auch die politischen Akteur*innen dem Heimatbegriff und versuchen, ihn je nach Couleur zu besetzen. Die Bandbreite reicht von der altbackenen Heimat, die gegen andere verteidigt werden muss, über die Heimat, deren Naturräume und Lebewesen geschützt werden müssen bis hin zur Heimat, die zur neuen Heimat für Menschen werden soll, die ihre alte verloren haben.
Foto: Ingo Taubhorn
2004-HeimatSzene
Plakat der Deutschen AIDS-Hilfe aus dem Jahr 2004, Grafik: Wolfgang Mudra, Location: „Hafen“, Berlin
Willkommen zu Hause!
Hiervon ist kaum etwas hilfreich für die Beantwortung der Frage, ob die queere Szene Heimat oder wenigstens ihr Ersatz sein kann. In jedem Fall ist die Szene aber ein Zuhause, wenn man es möchte, noch öfter aber ein öffentliches Wohnzimmer. Die allermeisten Menschen können wohl kaum von sich behaupten, dass sie mehrere Heimaten haben. Man kann sich jedoch an mehreren Orten zu Hause fühlen. Die Vielfalt der queeren Szene und der verschiedenen Communitys mit ihren Abgrenzungen und Überschneidungen befördert dieses Empfinden besonders. Szene kann familiär und anonym, Ort von Empathie oder gegenseitiger Ausbeutung, Fürsorge und Gewalt sein. In ihr können Menschen Halt finden oder untergehen. Wer sich in ihr bewegt, wird hierfür immer in allen Jahrzehnten heitere und traurige Beispiele finden. Im Jahr 2004 gestaltete die Deutsche Aidshilfe jenes Plakat, weil auch damals und sicher schon lange vorher unverkennbar war, dass in der Szene und an ihren Treffpunkten nur „meist junge, gut aussehende, gesunde und unversehrte Männer“ mithalten können. „Wer diesem Ideal nicht entspricht oder aus anderen Gründen durchs Raster fällt ... wird angestarrt oder gar nicht erst beachtet, direkt abgelehnt oder mit Spott bedacht.“ (Jahresbericht 2004 der Deutschen AIDS-Hilfe). Eine Zustandsbeschreibung, die seitdem noch an Aktualität gewonnen hat. Die Behauptung, früher sei alles besser gewesen, stimmt deshalb für die LGBTIQ*-Szene genauso wenig wie für die Bergwelten der 50er-Jahre.