Glücklich wie ein Kind, das ein Vogelnest entdeckt hat, bin ich darüber, dass endlich die Szene-Lokale teilweise und unter Einschränkungen wieder öffnen dürfen, und ich bekenne mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand: In der pandemischen Notwendigkeit, die Orte von Subkultur und queerem Zusammensein zu schließen, habe ich eine empfindliche Störung meiner sozialen Gewohnheiten erlebt.
Selbstverständlich haben wir alle die Zeit sinnvoll genutzt und sind vor lauter Sport nun topfit, können eine Fremdsprache mehr, haben sogar die Schränke hinten und von unten Staub gewischt, heimgewerkt und regalweise Bücher gelesen. Doch nun, muss ich gestehen, ist mein Geist von so viel Lebensmuße gesättigt wie ein rüstiger Mann vom Ruhen im warmen Sand. Man möchte aufspringen und nach so viel selbstbestimmter Annehmlichkeit auch wieder Anregung und Aufregung erfahren.
Für manche waren die vergangenen Wochen eine belastende Zeit, die geprägt war von Sorge um die Gesundheit, mit sozialer Isolation, Zukunftsängsten und teilweise erheblichen finanziellen Einbußen. Die meisten werden das Frühjahr 2020 aber als unfreiwilligen psychosozialen Selbstversuch in Erinnerung behalten, der ihnen aufgezeigt hat, was ihnen wichtig ist, was unentbehrlich und was eigentlich vernachlässigbar. Auch viele, die glaubten, sich selbst gut zu kennen, waren über die Resultate dieser Erfahrung überrascht.
Sinnliche Ebbe statt Reizüberflutung
Freilich war der Fernsehsender arte stets bemüht darin, meine kulturelle Minimalversorgung zu gewährleisten. Einen Abend verbrachte ich sogar damit, online durch das Metropolitan Museum of Art zu wandeln, in dem man sich übrigens virtuell genauso hilflos verlaufen kann wie in echt. Von einer unvorhergesehenen Konfrontation mit schöpferischen Impulsen anderer Menschen kann jedoch kaum eine Rede sein. Besonders die queere Subkultur ist gekennzeichnet durch große Spontanität und unbestreitbare Exaltiertheit. In den vergangenen Wochen waren die selbst zusammengestellte Leseliste, das Mainstream-Fernsehprogramm und die eingetretenen Pfade im Web aber genau das Gegenteil davon.
Der Kulturanthropologe Ernest Becker hat mal geschrieben: „Um die Last des Daseins ertragen zu können, verankern wir uns in einem Glaubenssystem, das wir Kultur nennen.“ In Bezug auf unsere LGBTIQ*-Subkultur liest sich das zunächst wie ein zu hoher Griff ins intellektuelle Regal, bloß weil mir mal acht Wochen spätnachmittäglicher Tratsch und Kaltgetränke im Frankfurter Bermudadreieck versagt geblieben sind.
„Dasein“ hat für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans*-Menschen indes auch immer die Konnotation „Sosein“ und „Anderssein“. In Beruf und Familie ist das auch heute noch für viele oft mit Hürden und Versteckspiel verbunden, wird mit geringschätzigen Bemerkungen versehen und nicht toleriert. So gesehen ist das queere Wertesystem eben doch gleichbedeutend mit einem Glaubenssystem, in dem die gemeinsame Überzeugung gilt, dass Vielfalt wertvoll, jede geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung gleichberechtigt und gegenseitige Akzeptanz eine Tugend sind.
„Lachen ist das Erglänzen der Seele“
Orte, an denen Menschen glücklich sind, erkennt man schon von Weitem daran, dass dort gelacht wird. „Lachen ist das Erglänzen der Seele“, schrieb Thomas Mann, was die letzten Wochen eher matt erscheinen lässt und unsere psychische Politurbedürftigkeit verdeutlicht. Denn nur der Blödsinnige lacht ständig allein. In der Regel lachen wir gemeinsam und übereinander. Gelächter tut dabei erwiesenermaßen nicht nur der Seele gut, und überhaupt geht es im Szeneleben natürlich mindestens zum gleichen Teil auch um die Förderung der irdischen Lebensinteressen.
Einige davon lassen sich flüssig befriedigen, andere wiederum sind mehr zupackender Natur und lassen sich auch beim besten Willen nicht mit dem Abstandsgebot von einem Meter fünfzig vereinbaren.