Neben Los Angeles und San Francisco gehört Seattle zu den queersten Metropolen an der US-Westküste. Außer der Vorliebe für alternative Szenespots verbindet die LGBTIQ*-Community eine große Liebe zur Natur, die sich in der Region von ihrer spektakulärsten Seite zeigt.
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Seattle
Die Skyline von Seattle mit der Space Needle (links)
Auch nach über sechzig Jahren seit der Eröffnung enttäuscht der Blick von Seattles Wahrzeichen nicht. Wer sich auf der Aussichtsplattform der Space Needle in 158 Meter Höhe den Wind um die Nase wehen lässt, erlebt ein Panorama, wie es nur wenige US-Städte bieten können. Natürlich sind da zum einen die Wolkenkratzer von Downtown, die sich glitzernd in den Himmel recken. Zu Füßen des futuristischen Aussichtsturms, der zur Weltausstellung 1962 errichtet wurde, liegen mit den Ausstellungsräumen für die Werke des Glaskünstlers Dale Chihuly und dem von Frank Gehry entworfenen Museum of Pop Culture gleich zwei weitere Sehenswürdigkeiten der Stadt. Aber das eigentlich Spektakuläre ist die Natur, die Seattle umgibt. Bei klarem Wetter kann man von hier nicht nur über den Lake Union und die Elliott Bay mit ihren Inseln blicken, sondern erkennt am Horizont die Berge der Kaskadenkette, die Olympic Mountains sowie die schneebedeckten Vulkangipfel von Mount Baker und Mount Rainier.
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Seattle
Space Needle
Am Rand der Zivilisation
„Für mich ist Seattle die ideale Kombination aus Großstadt und Wildnis“, erzählt Kieron Wilde während einer Fahrt in den Mount Rainier National Park. „Die Stadt hat einen coolen Outdoor-Vibe, ist extrem liberal und offen. Dazu gesellen sich Affinität für Kunst und Musik – es gibt dort großartige Bars und eine spannende Musikszene“. Nach einem Studium der Ökologie und seiner Arbeit an einem Schutzprojekt für Lachse im North Cascade National Park für das Washington State Department of Ecology gründetet der heute 44-Jährige im Jahr 2007 sein eigenes Unternehmen. „First Nature Tours“ hat sich auf individuelle Reiseerlebnisse im pazifischen Nordwesten der USA spezialisiert und setzt auf nachhaltigen Tourismus im Luxusbereich. Eine „Null Abfall“-Politik gehört dabei ebenso zum Konzept wie die Fahrt mit einem Elektro-SUV. „Wir wollen unseren Gästen etwas Einmaliges bieten – von eintägigen Wanderungen in den Nationalparks bis zu mehrtägigen Expeditionen der Region zwischen Portland und der kanadischen Grenze“, so Kieron. Als der sympathische Amerikaner 2004 nach Seattle zog, war er vor allem von der Natur fasziniert. „Ich wollte damals nicht weit vom Rand der Zivilisation, und Seattle war mit der Kombination aus Stadt, Bergen, Meer und Wildnis die ideale Wahl.“
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Kieron Wilde
Naturexperte Kieron Wilde vor dem Mount Rainier
Küste, Regenwald & Gletscher
Die Vielfalt an verschiedenen Lebensräumen, die man von Seattle aus in weniger als drei Stunden erreichen kann, ist beeindruckend. Mit Auto und Fähre bzw. mit dem Wasserflugzeug gelangt man etwa auf die nördlich von Seattle gelegenen San Juan Islands, auf denen man wandern, Kajakfahren und zu Bootsfahrten starten kann, um Killerwale zu beobachten. Der im Westen auf einer abgelegenen Halbinsel gelegene Olympic National Park ist vor allem für seine wild zerklüftete Küste, seinen uralten gemäßigten Regenwald sowie seine von Gletschern bedeckten Berge bekannt. 150 Kilometer nordöstlich von Seattle liegt mit dem wenig besuchten North Cascades National Park ein Hochgebirgszug mit etwa 300 Gletschern, in dem auch Bären, Pumas, Wölfe und zahlreiche Vogelarten wie Weißkopfseeadler leben. Zwei Autostunden südlich von Seattle ragt dagegen der Gipfel des Schichtvulkans Mount Rainer knapp 4.400 Meter in die Höhe. Der gleichnamige Nationalpark wird jährlich von knapp zwei Millionen Menschen besucht und bietet insgesamt 480 Kilometer Wanderwege durch grünen Regenwald, tiefe Schluchten und blühende Bergwiesen, auf denen sich Streifenhörnchen und Murmeltiere tummeln. Vom modernen Besucherzentrum Paradise, das auf 1.600 Metern liegt und einen grandiosen Blick auf den mit Schnee und Eis bedeckten Gipfel des Mount Rainer bietet, startet Kieron zu einer Wanderung vorbei an Wasserfällen, Bächen und subalpinen Wiesen. In diesem Moment kann man sich kaum vorstellen, dass man nahe einer Großstadt und einer Metropolregion mit über vier Millionen Menschen ist. „Man findet Natur aber auch mitten in Seattle“, so Kieron, der inzwischen mit seinem Mann und zwei Kindern in Portland lebt. Nicht weit von Downtown entfernt, lädt der am Washington Lake gelegene Washington Park mit einem japanischen Garten und einem Arboretum zu Spaziergängen ein. Der benachbarte Madison Park Beach ist in den Sommermonaten Anlaufstelle für Seattles queere Community.
Foto: Dirk Baumgartl
Seattle
Murmeltier am Mount Rainier
Wir sind schwul
Deren Bars und Klubs findet man hauptsächlich im Stadtteil Capitol Hill, der ebenfalls nicht weit vom Stadtzentrum entfernt ist. Entlang der Straßen Broadway, Pike und Pine finden sich neben queeren Bars etliche Hipster-Cafés, Restaurants und Shops. Zu den Klassikern gehört dabei das in einer ehemaligen Tankstelle aus den 1930er-Jahren beheimatete „Pony“, dessen Einrichtung aus allen Ecken „Wir sind schwul“ zu schreien scheint. Dazu passt, dass 2014, im Zuge der Gentrifizierung des Stadtteils, der Bar-Manager ein Schild mit folgender Aufschrift anbringen lies: „Achtung: Dies ist eine Schwulenbar. Eine sehr schwule Bar. Wenn Sie nicht schwul (oder ein respektvoller Verbündeter) sind, verschwinden Sie. Dies ist kein Zoo und wir sind nicht Ihre Haustiere.“ Die Dichte an queeren Bars lädt quasi dazu ein, zwischen den Lokalen hin und her zu wechseln. Im „Diesel“ stößt man beispielsweise in lockerer und freundlicher Atmosphäre vor allem auf bärtige Kerle und Bären, während man zu späterer Stunde im „Eagle“ eher das Abenteuer sucht. Das „Union“ ist dagegen eher ein Treffpunkt für Studenten und Sportstudio-Gänger – was einen nicht davon abhalten sollte, dort mal vorbeizuschauen. Liebhaber von Dragshows können in der „Queer/Bar“ vorbeischauen, und wer in einem Klub abtanzen möchte, für den hat der „Cuff Complex“ am Wochenende seine Türen geöffnet. Das „Wildrose“ auf der Pike Street ist dagegen eine der wenigen Lesbenbars, die es in den USA noch gibt - auch Männer sind Willkommen. Wichtig zu wissen: In Washington State müssen Ausländer am Einlass von Bars und Klubs ihren Reisepass zeigen, Personalausweise oder Führerscheine werden nicht akzeptiert.
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Seattle
Pony Bar
Nackt auf dem Rad
Der Seattle Pride, der 1974 zum ersten Mal in Capitol Hill stattfand, ist inzwischen nach Downtown umgezogen. Am letzten Juniwochenende führt eine Parade mit gut 250 Gruppen entlang der 4th Avenue, bevor der Tag in einem Pride Fest mit mehreren Bühnen und Ständen am Seattle Center nahe der Space Needle endet. Zum Auftakt der Pride Week findet am ersten Samstag im Juni in dem in Capitol Hill gelegenen Volunteer Park die Veranstaltung Seattle Pride in the Park statt – ein Kulturfestival mit Konzerten, Kunstperformances und vielem mehr. Ziemlich queer geht es auch auf der Solstice Parade im Stadtteil Fremont zu. An einem Wochenende rund um den Zeitpunkt der Sommersonnenwende im Juni feiert der einst vor allem von Hippies bewohnte Stadtteil ein großes Festival, in dessen Zentrum eine Parade steht. Berühmt ist diese für ihre Hunderte von nackten, mit Bodypainting verzierten Radfahrern, die die Parade anführen.
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Seattle
Solstice Parade
Fliegende Fische
Wer die Stadt mit dem Rad auf eigene Faust erkunden will, braucht Ausdauer und eine gute Beinmuskulatur. Insgesamt ist Seattle, allem voran Downtown, eine ziemlich bergige Angelegenheit. Eher empfiehlt es sich, die Stadt zu erlaufen. Bis vor wenigen Jahren war die Waterfront durch eine auf Betonpfeilern liegende Hochstraße vom Rest der Innenstadt abgetrennt. Mittlerweile wurde die Trasse als Tunnel angelegt und die gesamte Uferpromenade wird im Rahmen eines Multi-Millionen-Dollar-Projekts neu gestaltet. Dazu gehört die Erweiterung des Seattle Aquarium mit seinen Seeottern, Seelöwen und einem pazifischen Riesenkraken ebenso wie die Schaffung neuer Parks, Radwege, Spielplätze und von mehr Kunst im öffentlichen Raum. Neben einem Riesenrad sind es vor allem jede Menge Fischrestaurants, die an den hölzernen Piers zum Verweilen einladen. Von hier aus legen auch die Fähren auf die im Pudget Sound gelegene Insel Bainbrigde Island ab. Der gleichnamige, super-queerfreundliche Ort ist mit seiner malerischen Hauptstraße, hübschen Boutiquen und kleinen Restaurants ein beliebtes Ausflugsziel der Großstädter. Neuste Attraktion ist der vom dänischen Künstler Thomas Dambo in einen Wald gesetzte, aus Holz und anderen recycelbaren Materialen gebaute Troll mit Namen „Pia The Peacekeeper“, den man während eines kleinen Spaziergangs vom Zentrum von Bainbridge Island erreicht.
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Seattle
Zurück in Seattle gehört ein Halt am Pike Place Market zum Pflichtprogramm eines jeden Touristen. Größte Attraktion ist der Fischstand am Eingang des 1907 eröffneten Marktes, bei dem die Händler die gekaufte Ware sich gegenseitig in hohem Bogen durch die Luft zuwerfen. Zudem findet man hier zahlreiche kleine Stände, Bäckereien, Eisdielen und Restaurants sowie den ersten Laden des heutigen Kaffee-Imperiums Starbucks, der am Pike Place Market 1971 eröffnet wurde und schon von Weitem an einer langen Warteschlange zu erkennen ist. Es ist der Moment, in dem man sich am liebsten wieder in die Abgeschiedenheit der Wildnis zurückwünscht.
Foto: Dirk Baumgartl
Seattle
Pike Place Market
INFO
Zahlreiche Tipps zu Sehenswürdigkeiten, Stadtvierteln oder der LGBTIQ* -Szene findet man auf der offiziellen Website des Tourismusbüros. www.seattle.org
Anreise
Condor fliegt mehrmals wöchentlich nonstop von Frankfurt nach Seattle. Zum Einsatz kommt dabei ein Airbus A330 neo mit Condors neusten Sitzen in Businessclass, Premium Economy und Economyclass. www.condor.com
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Seattle
Street Art in Capitol Hill
Hotel
Das W Seattle war nach dem W New York City das zweite Hotel, das unter der heute zu Marriott gehörenden Lifestyle-Marke eröffnete und zuletzt 2016 für 18 Millionen Dollar renoviert wurde. Als Gasthotel des Seattle Pride unterstützt das Haus seit vielen Jahren die lokale Community und ist dank seiner zentralen Lage äußerst beliebt. www.marriott.com
Outdoor
Wer für einen oder mehrere Tage die Naturwunder des pazifischen Nordwestens der USA erleben möchte und Wert auf Luxus legt, ist bei First Nature Tours bestens aufgehoben. Der schwule Firmenchef Kieron Wilde sorgt mit seinem Team dafür, dass es bei Touren zum Mount Rainier, in den Olympic National Park oder zu den San Juan Islands an nichts fehlt. www.firstnaturetours.com
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