Als erstes Land in Osteuropa hat Estland Anfang 2024 die Ehe für alle legalisiert. Die Hauptstadt Tallinn galt schon während der Sowjetzeit als überaus westlich. Mit ihrer von der UNESCO als Weltkulturerbe geschützten Altstadt und coolen Industrievierteln ist die Stadt ein ideales Wochenendziel.
Foto: Visit Estonia
Tallinn
Bei einem kurzen Exkurs durch die abwechslungsreiche Geschichte Tallinns kann einem schon schwindlig werden: Dänen, Deutsche, Schweden, Russen – sie alle haben in der estnischen Hauptstadt über kurz oder lang ihre Spuren hinterlassen. Doch der estnischen Identität konnten die jeweils Regierenden über die Jahrhunderte hinweg nichts anhaben. Mit seiner „singenden Revolution“ zur Zeit der Perestroika zwischen 1988 und 1991 machte sich Estland gemeinsam mit den anderen baltischen Staaten auf den Weg in die Unabhängigkeit. Die stärkste Waffe waren dabei Volkslieder und die zu Sowjetzeiten verbotene Nationalhymne, die 1988 von 300.000 Esten während einer Demonstration auf dem Lauluväljak, dem Sängerfestplatz am Rande der Stadt, erstmals wieder angestimmt wurde. Am 20. August 1991 schließlich setzte Estland seine Unabhängigkeit gegenüber Moskau durch. Von der Musik können die Esten bis heute nicht lassen, Höhepunkt ist das alle fünf Jahre stattfindende Sängerfest – das mit einem Laienchor aus über 20.000 Sängerinnen und Sängern zu einem der größten Festivals seiner Art gehört und von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen wurde. Kein Wunder, dass in dem musikverliebten Land auch der Eurovision Song Contest (ESC) eine ganz besondere Rolle spielt und sich die Wahl des Finalisten – ähnlich des Modells vom schwedischen Melodifestivalen – über Wochen unter größter nationaler Beobachtung hinzieht. Der Gewinn des ESC durch die Sänger Tanel Padar und Dave Benton im Jahr 2001 war für Estland daher vermutlich vergleichbar mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft des wiedervereinten Deutschlands 1990 – und Balsam für die Seele.
Foto: Dirk Baumgartl
Tallinn
Jahre der Freiheit
Dem jungen Tanel Padar konnte man bis März auch in einer Ausstellung des estnischen Fotografen Toomas Volkmann im Tallinner Museum Fotografiska begegnen. Unter dem Titel „Pastful Blast“ zeigte der schwule Künstler Arbeiten aus dreißig Jahren seiner Karriere, darunter zahlreiche Porträts estnischer Models und Prominenter, Werbe- sowie Modeaufnahmen. Besonders spannend waren dabei die Fotos aus seinen Jahren als Fotograf für die Partyreihe VIBE, die Ende der 1990er-Jahre in Estland für Furore sorgte. Hier feierten Schwule, Lesben und Dragqueens mit der kulturellen und wirtschaftlichen Elite die wildesten Partys des Landes und brachen mit allen Tabus der düsteren und spaßlosen Sowjetzeit.
Foto: Dirk Baumgartl
Tallinn
Ausstellung im Fotografiska
Rund um das Fotografiska, das mit häufig wechselnden Fotoausstellungen für einen stetigen Besucherstrom sorgt, liegen jede Menge coole Bars, Restaurants, Galerien, Läden und Büros diverser Start-ups. Einst dienten die auf dem heutigen Kreativcampus Telliskivi befindlichen Industriehallen der Schwerindustrie und zur Wartung von Lokomotiven, bevor sich das Areal unweit der Altstadt ab 2007 in einen kreativen Hub verwandelte. In den Co-Working-Büros von Telliskivi wurden Start-ups wie Skype oder der Fahrdienstleister Bolt gegründet, die zum Nimbus von Estland als digitale Nation beitrugen. Inzwischen gilt Estland als das am besten digitalisierte Land der Erde: So gibt es für jeden Bürger einen elektronischen Personalausweis, man kann in Estland mit einer digitalen Unterschrift seine Steuererklärung abgeben, fast alle Behördengänge vermeiden, erhält Zugriff auf seine Gesundheitsdaten und kann sogar online wählen. Bei einem Spaziergang durch den Kreativcampus Telliskivi stößt man zudem auf jede Menge fotogene Street-Art, über die sich vor allem junge Instagrammer freuen dürften. Dabei nimmt das wohl wertvollste Kunstwerk eben jenen Selfie-Tourismus ironisch ins Visier: Unter dem Titel „Totentanz mit Endel, bekannt als Endel mit einem Stab“ setzt sich der als „Banksy Estlands“ bekannte Künstler Edward von Lõngus mit der Hipsterkultur und dem Thema Selbstdarstellung auseinander. Das Selfie mit dem lächelnden Tod aus dem Jahr 2017 greift dabei auf ein Motiv des in der Nikolaikirche zu sehenden Totentanzes des Lübecker Künstlers Bernt Notke aus dem Jahr 1509 zurück. Die Nikolaikirche selbst dient heute als Museum für sakrale Kunst, und vom 105 Meter hohen Turm, in dem man mit einem Aufzug nach oben gelangt, bietet sich dem Besucher eine der besten Aussichten auf die Stadt.
Foto: Dirk Baumgartl
Tallinn
Street Art von Edward von Lõngus
Mumien und Marzipan
Am Finnischen Meerbusen gelegen und nur rund achtzig Kilometer von Helsinki entfernt gehört Tallinn sicher zu einer der schönsten Städte entlang der Ostseeküste. Von einer mächtigen, noch gut erhaltenen Stadtmauer mit 26 Wehrtürmen umgeben, ist die von Kopfsteinpflaster durchzogene Altstadt ein echtes Schmuckstück, das 1997 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Im Zentrum der Unterstadt liegt der Rathausplatz, der von historischen Gebäuden wie dem bereits im 13. Jahrhundert errichteten gotischen Rathaus umschlossen wird. Hier befindet sich auch eine der ältesten bis heute betriebenen Apotheken Europas. In einem Nebenraum der 1422 erstmals erwähnten Ratsapotheke ist eine kleine Ausstellung zur Geschichte mit historischen Exponaten wie die Hand einer Mumie, eingelegte Igel, Skorpione, Schlangen und getrocknete, als Aphrodisiakum geltende Hirschpenisse zu sehen. Und natürlich gibt es hier neben Kräutertinkturen auch Marzipan zu kaufen – das in Tallinn fast gleichzeitig wie in der Hansestadt Lübeck in den Handel kam.
Foto: Dirk Baumgartl
Tallinn
Katariina Gang
Weitere Highlights sind neben der Nikolaikirche die Heiliggeistkirche, die Olaikirche sowie das Haus der Schwarzhäupterbruderschaft. Besonders malerisch ist der Katariina-Gang – eine schmale Gasse, die zwischen der Katariina-Kirche und Wohnhäusern aus dem 15. bis 17. Jahrhundert hindurchführt und von steinernen Bögen überspannt wird. In Werkstätten der benachbarten Katariina-Gilde sind es ausschließlich Frauen, die ihr Kunsthandwerk von Lederwaren, Textil, Hüten, Schmuck, Glas und Keramik herstellen und verkaufen. In der Oberstadt auf dem Domberg beeindruckt vor allem die russisch-orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale mit ihren weithin sichtbaren Zwiebeltürmen, die Ende des 19. Jahrhunderts erbaut wurde. Das gegenüberliegende Schloss, das im 18. Jahrhundert auf Initiative der russischen Zarin Katharina II. umgebaut wurde, ist heute der Sitz des estnischen Parlaments. Viele der in der Oberstadt befindlichen Adelspalais und Häuser dienen inzwischen als Verwaltungsgebäude, Museen und Botschaften.
Foto: Dirk Baumgartl
Tallinn
Alexander-Newski-Kathedrale
Die Bären sind los
„Zu Sowjetzeiten diente die Altstadt Tallinns immer wieder als Filmkulisse für westliche Städte oder Märchenfilme“, erzählt Dima. Der 58-jährige Russe ist pensionierter Armeeoffizier und Mitbegründer von Tallinn Bearty, dem größten Treffen für bärige Kerle im Baltikum. Gemeinsam mit seinem Mann Alvar, einem gebürtigen Esten und Verkaufsspezialisten in einem großen Telekommunikationsunternehmen, wurde das Bärentreffen 2015 aus der Taufe gehoben. „Schon ab 2016 haben wir uns auf ein begleitendes Kulturprogramm konzentriert, das jedes Jahr einen anderen Schwerpunkt hat – von bildender Kunst über Musik bis zu Film“, so Alvar. An die 300 Teilnehmer kommen inzwischen zu dem jährlich im April stattfindenden Festival. Mit Einführung der Ehe für alle, die auch das Recht auf eine gemeinsame Adoption beinhaltet, hoffen die beiden auf weitere Besucher. Schon in den letzten Jahren kamen nicht nur „Bären“ aus dem Baltikum, Schweden, Finnland und Deutschland, sondern auch aus Kanada, den USA und vielen anderen Ländern. Alvar und Dima haben bereits vor fünf Jahren in Berlin geheiratet und sind gerade dabei, ihre Ehe nun auch in Estland offiziell registrieren zu lassen. Dass Estland das erste osteuropäische Land ist, das die Ehe für alle legalisiert hat, ist für Alvar keine Überraschung. „Estland war schon immer das am westlichsten orientierte Land des Baltikums und fühlt sich vom Kulturkreis eher den nordischen Ländern wie Dänemark, Schweden und Finnland verbunden“, so Alvar. Auch die älteste queere Bar des Baltikums befindet sich in Tallinn. Direkt am Rande der Stadtmauer liegt die X-Bar, die sich über zwei Etagen erstreckt und mit einer großen Tanzfläche am Wochenende und meist weit nach Mitternacht ein ziemlich diverses Publikum anlockt. Das Festival Bearty feiert hier etwa seine größte Party. Etwas kleiner und daher gemütlicher ist die inmitten der Altstadt gelegene Hello Bar, die vor gut einem Jahr eröffnete und ebenfalls mit einer kleinen Tanzfläche aufwartet. Nur freitags und samstags ist die queer-alternative Bar Hungr geöffnet, die mit wechselnden Veranstaltungen ein angesagter Treffpunkt für Künstler und junge Queers ist. Seinen Pride teilt sich Tallinn aktuell mit den anderen baltischen Hauptstädten Riga und Vilnius abwechselnd unter dem Namen Baltic Pride, der jedes Jahr in einer der drei Städte stattfindet. Nach Tallinn im Jahr 2023 ist 2024 Riga an der Reihe, ein weiterer Pride in Estland findet dieses Jahr in der nicht weit von Tallinn entfernten Universitätsstadt Tartu statt.
Tallinn Bearty
Tallinn
Dima und Alvar
Museumsreif
Dass LGBTIQ*-Themen auch außerhalb der Community immer mehr an Bedeutung gewinnen, zeigt ein Besuch im Vabamu. Das „Museum der Besetzung und Freiheit“ ist Estlands größtes privates und nicht kommerzielles Museum, das sich mit der sowjetischen Okkupation und dem estnischen Kampf um Unabhängigkeit beschäftigt. Neben zahlreichen Exponaten, die von der Zeit der Besatzung und der Lebensumstände zeugen und die anhand eines Audioguides erklärt werden, wurde vor Kurzem die Geschichte von Estlands LGBTIQ*-Community als eigener Erzählstrang in die Ausstellung eingebaut. Anhand von Fotos, Zeitungsartikeln und persönlichen Schicksalen wie dem von Estlands erster Transfrau A. Oinatski führt eine eigene Audiospur durch das gesamte Museum bis in die Zeit kurz nach der Unabhängigkeit und zum Wunsch nach völliger Gleichstellung, etwa durch die Legalisierung der Ehe für alle. Aktuell arbeiten die Kuratoren des Museums daran, die Ausstellung der neuen Realität in Estland anzupassen, denn dieser Wunsch wurde vom Parlament inzwischen erfüllt.
Foto: Dirk Baumgartl
Tallinn
LGBTIQ*-Geschichte im Museum Vabamu
INFO
Alle Infos und Tipps rund um Estland und dessen Hauptstadt Tallinn – darunter auch speziell für LGBTIQ*-Urlauber - findet man auf der offiziellen Seite des estnischen Tourismusbüros. www.visitestonia.com
Anreise
Neben täglichen Nonstop-Verbindungen mit Lufthansa ab Frankfurt und München fliegt die lettische Fluggesellschaft Air Baltic auch ab Berlin jeden Tag nach Tallinn. www.lufthansa.com; www.fly.airbaltic.com
HOTEL
Das 2023 eröffnete Boutique-Hotel Nunne befindet sich in einem historischen Gebäude am Rande der Altstadt und erstreckt sich zum Teil auch in einen Wehrturm der alten Stadtmauer. Neben einem Spa-Bereich mit drei Saunen und einem kleinen Pool sollte man auf keinen Fall einen Besuch des Restaurants Âme versäumen. Hier wird moderne nordische Küche auf exzellentem Niveau serviert. www.nunne.ee
Foto: Dirk Baumgartl
Tallinn
Queere X-Bar