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Mitte Juni wurde Jörg im Rahmen der Leather Odyssey des FLC zum Mr. Fetish Hessen 2025 gewählt. Wir haben mit ihm zum Interview getroffen.
Glückwunsch zum Titel Mr Fetish Hessen! Du hast am Wahlabend eine spektakuläre Präsentation gezeigt – wie sah die aus?
Danke! Es war eine Show, die in sechs Kapiteln aus meinem Leben erzählt. Ich habe das audiovisuell gezeigt, eine Bühnenshow mit zwei Freunden und meinem Partner John. Parallel dazu liefen auf einer Leinwand Songs, Videos und Bilder aus meinem Leben.
Kapitel eins war, wie alles angefangen hat. Ich war bereits großer Abba-Fan und meine Eltern hätten eigentlich wissen können, dass der Junge schwul ist (lacht). Der Song zu diesem Kapitel war „I Have A Dream“ von Abba. Schon als Jugendlicher fand ich Bauarbeiter und Dachdecker schweinegeil. Das finde ich auch heute noch und gucke denen immer noch hinterher.
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Im zweiten Kapitel gab es einen Song aus den 70er Jahren, von Tom Robinson, „Sing, If You're Glad To Be Gay“. Das war im Großbritannien ein schwuler Protestsong gegen die Bigotterie der Hetero-Gesellschaft, aber auch gegen die „netten“ West-End-Schwulen, die nicht mit „schmutzigem Zeug“ behelligt werden wollten.
Ich habe das in Verbindung gebracht mit meinem Coming-out und der „Homosolidarität“-Demonstration in Frankfurt. Wir sind damals ganz bewusst in der Kaiserstraße gestartet, zusammen mit Drogenbenutzern, zusammen mit Prostituierten, oder wie man heute sagt, Sexarbeiterinnen, weil das diejenigen waren, die von der Aids-Krise betroffen waren. Das war eine Gemeinschaft. Da könnte man sich jetzt fragen, ob das heute noch jemand machen würde?
Aber: „Stonewall Was A Riot“. Dass wir heute Christopher Street Day oder Gay Pride feiern, hängt mit der Tatsache zusammen, dass damals insbesondere farbige, Transsexuelle, Dragqueens und Ledermänner aufgestanden sind, weil gerade deren Kneipen ständig Polizei-Razzien unterzogen wurden. Und die haben aufbegehrt – nicht die netten, angepassten Schwulen. Ich finde, wir müssen heute mit CSDs zumindest ein Stück weit wieder dahin zurückkehren. Wir müssen uns fragen: Ist es wichtig, dass ich einen großen Hauptsponsor habe, oder ist es wichtig, dass ich den Kern der Truppe mitnehme?
Das dritte Kapitel war ein sehr Persönliches. Mein damaliger, zweiter Partner ist vor ziemlich genau 10 Jahren gestorben. Das war damals, kurz vor der Leather Odyssey 2015. Sein Bild hat auf der Bühne gestanden und ich habe dieses Bild jetzt wieder mitgebracht, zusammen mit einem Foto meines ersten Partners, der 1993 an AIDS gestorben ist. Ich habe die Bilder in einem Rucksack gepackt, auf dem „Leben“ steht und den Rucksack angezogen. Ich habe damit symbolisiert, dass diese Menschen immer bei mir sind, in meinem emotionalen Rucksack. Sie sind Teil meiner Vergangenheit und ich nehme sie immer mit auf meiner Reise. Sie sind mir Wegbegleiter, sie sind mir Berater, aber ich schaue nach vorne. Ich lebe. Ich liebe das Leben. Sie sind ein wichtiger Teil meiner Vergangenheit, aber sie bestimmen nicht meine Zukunft. Die nehme ich selber in die Hand. Eine wichtige Botschaft, Der Song dazu war Shakiras „I won't give up I won't give in“.

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Nach dem Tod meines zweiten Partners habe ich viele Jahre zurückgezogen gelebt. Nicht depressiv, aber ein bisschen in mich gekehrt. Bis ich dann auf einmal angefangen habe, Kink und Fetisch mehr für mich zu entdecken. Ich war ja schon Mitglied im FLC, aber eher wie ein Satellit: nur dabei, statt mittendrin. Das hat sich auf einmal geändert – und ich war „dabei“. Mit 55 habe ich zum Beispiel meinen Motorradführerschein gemacht, und hatte die entsprechenden Outfits. Ein bisschen wie die Jungs im „Relax“-Videoclip von Frankie goes to Hollywood. Das war dann auch die Musik zum vierten Teil. Da sind wir auf der Bühne auf ein fiktives Motorrad gestiegen und haben eine angedeutete Motorradfahrt gemacht; das Publikum hat mitgegrölt und mit mitgetanzt.
Das fünfte Kapitel hieß „Erkenntnis Steppenbrand“. Das ist ein Kink-BDSM-Fetisch-Camp in der Nähe von Rostock, mit 350 bis 400 Leuten. Der Ort ist eine ehemalige NVA-Kaserne, außerhalb der Ortschaft. Ich nenne das immer „geschützte Öffentlichkeit“ – also man ist mit vielen Menschen zusammen, aber alle sind schwule Fetischkerle – da kann man ein bisschen die Sau rauslassen. Man ist da – anders als zum Beispiel beim Folsom-Treffen – unter sich, fünf oder sechs Tage, 24/7 in Gear, man kann rumwutzen so viel man will, man kann tolle Kontakte knüpfen und man kann so richtig aus sich herausgehen. Das war ein richtiges „Aha-Erlebnis“ für mich. Das ist so ein bisschen wie der Eurovision Song Contest: 26 europäische Nationen und ein Australier. Den habe ich vor drei Jahren dort kennengelernt und wir werden in zwei Wochen heiraten. Gerade habe ich nochmal so ein richtiges Kink-BDSM-Fetisch-Coming-out und lass‘ es jetzt noch mal ein bisschen krachen.
Der Song zu diesem Teil der Show war der, den wir letztes Jahr für die Eröffnung des „Steppenbrand“ umgedichtet haben; „Die Ärzte“ singen „Westerland“ und wir: „Ich will zurück zum Steppenbrand“. Davon haben wir einen Videoausschnitt gespielt, als wir das letzte Jahr alle bei der Eröffnung gesungen haben.
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Das letzte Kapitel hatte das Thema „so habe ich mich zu dem entwickelt, der heute für euch auf der Bühne steht“, mit dem Motto meiner Kampagne „Don’t dream it, be it“, dem Song aus der Rocky Horror Picture Show. Ich bin froh, Teil einer bunten Community zu sein. Und wir sind mitten in der Gesellschaft, wir sind Chefs, wir sind Angestellte, wir sind Arbeiter, wir sind Pfleger. Und dann sind wir sind aber auch Männer, wir sind Frauen, wir sind trans, wir sind lesbisch, wir sind schwul, aber wir sind vor allen eins: Wir sind Menschen. Und wenn wir uns als Menschen gleichwertig begegnen würden, wären wir ein ganzes Stück weiter.
Es war sehr persönlich, aus dem Leben gegriffen, ein bisschen Seelenstriptease. Es gehörte schon Überwindung dazu, auch offen über den Tod meiner früheren Lebenspartner zu sprechen. Aber auch das ist ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Ich möchte zeigen, dass es weitergehen kann, dass es auch ein Leben „danach“ gibt. Was nicht heißt, dass man die Vergangenheit negiert, sondern dass man die Vergangenheit positiv mitnimmt in die Zukunft. Das ist mir sehr wichtig.
Mein erster Partner ist gestorben, als ich seine Hand gehalten habe. Das ist etwas, was man sich mit 27 nicht wünscht, aber ich möchte es auch nicht vermisst haben. Es braucht mir niemand zu erzählen, was es bedeutet, diesen Schmerz zu empfinden, denn ich weiß es. Man kann aber auch dramatisch-traumatische Dinge im Leben für sich verwenden und kann sie in etwas Positives kehren und für sich nutzen. Das hat mich in meinem Leben stark gemacht.
Nach dem Tod meines zweiten Partners haben viele gesagt, der hinterlässt eine Lücke, die man nie, nie wieder schließen kann. Ich will diese Lücke auch gar nicht schließen. Diese Lücke ist da, diese Lücke ist Bestandteil meines Lebens. Es ist ein bisschen wie an einer Baustelle, da ist eine Grube, da machen wir ein Absperrband herum, damit ich weiß, dass da eine Grube ist. Ich will sie nicht auffüllen mit irgendetwas, sondern diese Grube ist ein Symbol für einen Platz für jemand, der mal da war, und das soll so auch so bleiben. Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre.
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Was war die Motivation, als „Mr. Fetish Hessen“ zu kandidieren?
Es gibt da so einen Fun-Fact: Ich bin ja selbst im Vorstand des FLC, als Beisitzer, und ich bin der Einzige, der noch keinen Titel hatte. Da hab‘ ich mir gesagt, ich will es wenigstens mal versuchen (lacht).
Eigentlich gab es zwei Motivatoren: Zum einen ist das Uli, der Mr. Leather Hamburg 2023. Er war schon über 60. Und Norbert aus Berlin, der Mr. Fetish Gran Canaria geworden ist, und auch deutlich älter als 60 Jahre ist. Die beiden haben gezeigt, dass man auch im gereiften Alter einen Punkt setzen kann.
Mit den letzten beiden Mr. Fetish Hessen, mit Shkody, der damals 21 war, und Lorenz, der 28 war, stelle ich mit 59 jetzt mal das andere Ende der Altersskala dar.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir beides haben: Junge Leute haben die Frische, die haben die Energie, die haben Visionen. Die habe ich vielleicht auch noch, aber ich glaube, meine Stärke ist eher meine Lebenserfahrung. Und zur Lebenserfahrung gibt es keine Abkürzung. Man kann nicht mit 20 die Lebenserfahrung eines 59-jährigen haben.

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Du sprichst sehr offen über Probleme, die du zum Beispiel mit deinen Coming-outs hattest. Was hat dich dazu gebracht, über deinen Schatten zu springen?
Ich glaube, es geht allen Menschen so, dass es schwierig ist, sich gegenüber der Gesellschaft zu öffnen, mit einem persönlichen Merkmal, dass andere nicht kennen. Und das hängt, glaube ich, mit der eigenen mentalen Stärke zusammen. Es ist sehr häufig die Schere im eigenen Kopf. Ich erlebe das bei Leuten in meinem Umfeld, die sich zum Beispiel nicht trauen, ihr Coming-out zu haben. Obwohl es das Umfeld eigentlich – mehr oder weniger offensichtlich – schon weiß, und vielleicht auch schon versucht, goldene Brücken zu bauen. Aber sie sind nicht bereit, darüber zu gehen.
Ich will das nicht generalisieren, aber manchmal muss man im Leben einfach den Mumm dazu haben. Das können ganz unterschiedliche Auslöser sein. Rolemodels können da eine Möglichkeit sein. Da könnte ich mich als Mr. Fetish Hessen wiederfinden und sagen, ich habe eine Entwicklung gehabt. Ich war nicht mit 20 schon jemand, der mit der Schärpe auf der Bühne steht, sondern das hat viele Jahre gedauert, dahin zu kommen. Aber wenn ich das schaffen kann, dann können es auch andere schaffen. Das muss nicht zwingend für andere auch funktionieren. Aber ich kann aus meinem Erfahrungsschatz schöpfen und vielleicht Hinweise geben.
Seit meinem Coming-out Ende der 80er Jahre habe ich immer das Glück gehabt, dass ich sowohl in meinem Arbeitsumfeld als auch und in meinem privaten Umfeld immer offen gelebt habe. Jeder wusste, dass ich einen Partner habe oder dass mein Partner gerade verstorben ist. Und ich habe damit in meinem Leben zum allerübergrößten Anteil, also zu über 99%, positive Erfahrung gemacht. Je offener und selbstverständlicher man damit selbst umgeht, umso einfacher macht man es anderen, damit umzugehen.
Da kann auch mal jemand mal einen blöden Spruch machen, oder ich selbst kann einen blöden Schwulenwitz bringen – und dann selbst darüber lachen und gleichzeitig sagen: „der war jetzt wirklich scheiße, oder?“ Das sind so meine, ja, „Erfolgsfaktoren“, die ich im Leben zu dem Thema gehabt habe.
Hattest du selbst „Rolemodels“ in deiner Entwicklung?
Also, das waren eher Leute, die einfach offen und ehrlich im Umgang mit sich selbst sind. Wer mich allerdings sehr inspiriert hat, auch um mein Coming-out und mein Coming-public zu haben, war tatsächlich der Sänger Jimmy Somerville. Er hat mir mit seinen Songs aus der Seele gesprochen – dieses Gefühl, der singt genau über mein Leben. Das ist vielleicht auch etwas, was beim Coming-out tatsächlich hilft: Dieses Gefühl, ich bin nicht der Einzige. Ich bin nicht allein, wir sind mehrere. Wir müssen die anderen nur finden.
Das gilt auch für das Kink- oder Fetisch-Coming-out. Eine Community zu finden, in der man sich wohlfühlt, sich gut aufgehoben fühlt und die einem guttut, ist wichtig. Ich glaube, dieses positive Gefühl, mit anderen Leuten zusammen zu sein, die einen gemeinsamen Kink oder Fetisch haben, motiviert einen, offen und positiv damit umzugehen.